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Tuvia Rübner: Vier Ansichtskarten Ansichtskarte: Preßburg, heute Bratislava Preßburg ist ein Anhängsel von Wien mit der Elektrischen (20 km/h) drei Stunden weit. Das Burgtheater gab Gastvorstellungen, zum Beispiel: „Nathan der Weise“, die Staatsoper, zum Beispiel: „Aida“. Heute ist es einfach Bratislava. Ich bin alt. Ich will nur langsam weiter. Die Kelten bauten hier eine Festung. Im Großmährischen Reich gab es eine Basilika auf dem Burghügel. Die Burg Braslavespurch wird 907 erwähnt. Im Martinsdom wurden die ungarischen Könige gekrönt. In der Tolstoigasse gab es die Evangelische Volksschule und ganz nahe daneben, am Palisadenweg das Deutsche Staatsrealgymnasium. Dort lernte ich solang ich lernte. Das neunte Jahr nicht ganz bis zum Schluß, im slowakischen Realgymnasium im Grössling. Im Grössling wohnte ich in Preßburg bin ich geboren. Ich hatte eine Mutter einen Vater und eine Schwester. Preßburg liegt an der Donau, am Ausläufer der Karpaten. Noch heute verstehe ich nicht, wieso es da einen Gemsenberg gab, auf solchen Hügeln klettern doch keine Gemsen? Aber Weinberge senken sich dem Süden zu. In der Sonne glitzert die Donau, hoch von der Burg gesehen. Einmal fror sie ganz zu. Ich war noch recht klein. Ich hatte eine kleine glückliche Kindheit in Preßburg. Die Römer nannten es Posonium. Es ist eine sehr alte Stadt. So alt, daß ich sie gar nicht sehe. Ansichtskarte: Wien Einen erhobenen Arm kann man senken eine gestreckte Hand lockern. Ein Mund voller Rufe ist auch zum Sprechen fähig Jubelschreie können Lachen werden. Bürgersteige müssen nicht mit Zahnbürsten geschrubbt werden und Wien ist dennoch eine schöne, saubere Stadt mit einer blühenden Vergangenheit. Viele Musiker lebten in ihr, Künstler, Schriftsteller eine Stadt, die sich vorstellen kann. Am Heldenplatz zwitschern die Spatzen hört man sie im Getöse, es kommt vom regen Verkehr. Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos, notierte Kafka. Ein Opfer braucht sich nicht zu schämen, weil es ein Opfer war. Auch die Donau ist nicht eben blau. In Wien gibt es den Prater das Riesenrad, Würstel, den Watschenmann und den Heurigen. Der Heurige ist heurig, aber auch das Burgtheater, die Oper und die Karlskirche sollten nicht vergessen werden. Prächtiger Barock. Im Kunsthistorischen gibt es den Breughel. Der hat’s gewußt. Heute ist alles anders. Und ,,Der Triumph des Todes“ befindet sich im ‚‚Prado“. In Madrid. Ansichtskarte: Hebron und Umgebung Hebron ist eine uralte Stadt. Erzvater Abraham liegt hier mit seiner Frau begraben, heißt es. Eine heilige Sache für ein Land das vom Tod lebt. Morgens ißt man in Hebron Labani in Olivenöl Pita und Oliven. An Festtagen wird ein Lamm geschlachtet. Die Hebroner lieben das Schlachten. Lernten sie es von Simeon und Levi, Jakobs Söhnen? Als Sichem ihre Schwester Dina geschändet hatte, wollte er sie doch zum Weibe, und Hemor sein Vater sagte: „Ihr mögt uns eure Töchter geben und euch unsre Töchter nehmen, und bleibt bei uns wohnen, das Land soll euch offenstehen: bleibt, tut euch darin um und werdet hier ansässig!“ Lang ist das her. Auch geschah das alles in Sichem - in Dura, nahe bei Hebron, war es anders. Hebron ist berüchtigt: eine widerspenstige Stadt. 1929 wurden 68 Talmudschüler mit Frau und Kind in Hebron niedergemetzelt. O die Grabstädte Abrahams (wie es heißt), Erzvater der einen und der anderen. O die jungen Soldaten, denen bang ist. O der zehnte März 1998. Es ist fast Vollmond, aber es war noch heller Tag. Taglöhner aus Dura fuhren heim. An der Straße nach Hebron in Tarkumia gibt es eine Sicherheitsschranke. An der Schranke (in dieser Gegend blüht der Terror) standen Soldaten. Der Fahrer verlor die Gewalt über seinen Wagen. Der Wagen sauste auf die Schranke zu. Es gibt auch eine andere Version. Ein Soldat fiel zu Boden. Die anderen dachten, man wolle ihn überfahren. Schwer zu wissen, was die Wahrheit ist. Sie schossen. In Sekundenschnelle. Laut Verordnung. Laut Befehl. Wie schnell das doch geht. Wie schnell man ein anderer Mensch wird: unbeweglich plötzlich, Gesicht aus Gips, Augen aus Glas oder nachher Arme wieder unverkrampft, Worte im Mund, nicht Schreie. Gestern noch Pita und Oliven, vor Morgengrauen vielleicht noch ein Beischlaf. Gestern noch Schule, Logarithmen, Vokabel, Mädchen am Strand und plötzlich: Die Straße hat rote Flecke. Der Mond, fast voll, ist weiß wie ein Knochen. Ein Gelaufe, Hin und Her, Rufe, fort damit, nachher, wie immer, die Steine. Mehren sich die Steine? Langsam, unaufhaltsam mehren sich die Steine.