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een Helena Tomanova-Weisova Maminka Heinrich Gerhard Depte, ein deutsches Kind, lebte nach Kriegsende zwei Jahre in Lidice. ,»Man hatte ihn mir gebracht“, begann die Frau ihre Geschichte. Das Gespräch fand in einem der hübschen Häuser der wiederaufgebauten Gemeinde Lidice statt, 20 Jahre nachdem am 10. Juni 1942 faschistische Kommandos das tschechische Dorf dem Erdboden gleichgemacht hatten: Die Männer erschossen, die Frauen ins KZ gebracht, die Kinder aber blieben verschollen. Am Türrahmen der Küche waren mir die Rillen aufgefallen, wie sie wohl überall das Wachstum der Kinder festhalten. ‚Ihre Kinder sind ja schon erwachsen“ , meinte ich. „Ja“ , erwiderte die Frau, „aber mein Jaromir war nicht dabei. Er ist damals in Chelmno geblieben, mit den anderen Kindern aus Lidice. Der Junge, den mir die Fahndungskommission damals brachte, war ein deutsches Kind.“ Überrascht erinnerte ich mich an die vielen Publikationen über Lidice. In allen wurde der kleine Jaromir als einer der ,,eingedeutschten“ Kinder angeführt, die tiber ,,Lebensborn“ von deutschen Eltern adoptiert worden waren und so dem Gastod in Chelmno entgingen. Neun von achtzig Kindern waren nach dem Krieg ausgeforscht worden und man hatte sie ihren Miittern, die das KZ Ravensbriick iiberlebt hatten, zugefiihrt. Eines dieser Kinder soll auch der kleine Jaromir gewesen sein. Die Frau aber sprach unbeirrt weiter und ich hielt den Atem an. „Man hatte ihn mir gebracht... er sei blond und etwa vier Jahre alt. Offensichtlich sei er mit einem Transport deutscher Frauen und Kinder in das Protektorat Böhmen und Mähren geschickt worden, um den Luftangriffen im Reich zu entgehen. Daher trug er auch ein Pappschild mit dem Namen ‘Heinrich Gerhard Depte’ um den Hals. Nach dem schweren Luftangriff auf Pilsen war das Kind unter Schutt und Trümmern aufgefunden worden. Ganz allein. Und in der langen Zeit, die seit Kriegsende verstrichen war, hatte niemand nach ihm gefragt. Ja, er konnte ein Kind aus Lidice sein. Man hatte uns allein gelassen. Vor mir stand ein kleiner Erwachsener. Farblos, wie mit Asche bestreut das blonde Haar, ein unkindliches gespanntes Gesicht über dünnem Hälschen. Während ich versuchte, jeden Zug dieses Gesichts zu betrachten, nach einer Ähnlichkeit mit Jaromir zu suchen, war plötzlich alles so, wie jede Nacht in Ravensbrück. Vor meinem inneren Auge begann der unbarmherzige Film der Erinnnerung zu laufen, und es gab nichts, das ihn aufhalten konnnte. Ein Zwerglein hatte ich geboren, das linke Ohr noch eingerollt wie ein Blütenblatt. Aber das Neugeborene wächst, auf dem Kopf steht ein heller Flaum, das linke Ohr ist schon hübsch gerade und eine Stimme hat er wie ein kleiner Hahn. Ein strammmes Kerlchen ist der kleine Jaromir! Aber damals, als ich ihn in meinen Armen hielt, seine Wärme fühlte und hineinhorchte in seinen Atem, erschien er mir so klein, so hilflos, daß ich noch immer hoffte, während das Weinen der Frauen den Raum erfüllte... ’Ich will nach Hause! Mutti! Mutti!” Aber die schrille Kinderstimme vermochte meinen Film nicht aufzuhalten. Ich mußte ihn zu Ende sehen — wie jede Nacht in Ravensbrück: Kolbenschläge reißen uns aus dem Schlaf, Soldaten sind da. Sie bringen unsere Männer fort. Schreie, Schüsse im Dunkel und dann grelles Licht. Das Dorf steht in Flammmen. Man bringt uns nach Kladno, alle 6 Frauen und Kinder, pfercht uns in einen Raum der Schule, dessen Wände zu bersten drohen. Das Weinen der Frauen schwillt an und reißt plötzlich ab, übertönt von Schüssen, die sich Ruhe verschaffen. Und in die Stille fallen die Namen der Kinder, die uns genommen werden. Mein Jaromir ist der letzte im Alphabet... Erst jetzt wurde mir bewußt, daß ein Kind vor mir stand. Ganz Abwehr, bereit fortzulaufen von dieser Frau, die so lange schwieg. Aber er konnte es sein, mein Jaromir. Kinder ändern sich schnell. Ich suchte seine Augen, kniete nieder, um sie ganz von der Nähe zu sehen. Es waren fremde Augen. Das Kind zitterte, es begann zu schluchzen, weinte mit trockenen Augen. Mein Gott! Der Krieg war schon lange zu Ende und niemand hatte nach ihm gefragt! Ich kniete noch immer und öffnete unwillkürlich meine Arme. Das Kind kam mit zögernden Schritten näher und ich zog es an mich. Es wehrte sich nicht und endlich flossen seine Tränen. ‘Du Armes, Kleines’, hörte ich mich sagen, ‘du mein Kind, mein Jaromir...‘ Dann war er zwei Jahre lang mein Kind, ich war seine ‘maminke’ und er war ein liebes folgsames Kind, das mit den anderen ‘eingedeutschten’ Kindern aus Lidice bald Tschechisch lernte und mit seinen Kameraden schon in die Schule ging. Ich beobachtete ihn oft, wenn er schlief. Ein gesundes Kind, das nicht mehr aufschreckte aus dem Schlaf aus Angst vor den Bomben. Der Junge hatte sich verändert, das Gesicht war weicher, kindlicher geworden, das Haar wieder blond. Und ich begann zu glauben, er sei wirklich, mein kleiner verlorener Sohn. Ich lebte auf, hatte wieder geheiratet und erwartete ein Kind. Da kam der Brief. Das Internationale Rote Kreuz teilte mir mit, ich hatte vor zwei Jahren ein deutsches Kind — Heinrich Gerhard Depte — angenommen. Seine Mutter, die bei dem Bombenangriff auf Pilsen verletzt worden war, konnte erst jetzt seinen Aufenthalt ausfindig machen und forderte ihr Kind zurück. Natürlich wollte ich genaue Beweise. Umgehend kam ein weiterer Brief mit Dokumenten und Forografien. Därauf der Junge, noch ganz klein, ein Haus, ein Hund und ein Garten, und das Bild einer jungen Frau. Ich rief den Jungen und zeigte ihm die Bilder. Er schaute und schaute. Als er das Bild der Frau zur Hand nahm, sah ich die Erinnnerung aufsteigen in seinen Augen. ‘Maminko’, stieß er hervor, ‘das ist Mutti, meine Mutti!’ Wir haben ihm nichts erklärt. Mein Mann brachte ihn so schnell wie möglich zur Grenze. Dort wurde der sechsjährige Heinrich Gerhard Depte vom Roten Kreuz übernommen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ich habe auch das überstanden. Damals erwartete ich schon mein zweites Kind und bald kam dann noch das dritte.“ Die Frau lehnte noch immer am Türrahmen und strich über die Rillen. ,,Sie haben recht. Heute sind sie schon erwachsen, meine Kinder. Aber der Jaromir ist nicht dabei. Sie haben ihn umgebracht; mit den anderen Kindern aus Lidice, in einem Autobus. In Chelmno soll es gewesen sein. Irgendwo in Polen...“ Zur Publikation dieser Geschichte veranlaßt mich eine Notiz in der Zeitung ,, Lidové Novine“, 1997: Eines der ‘eingedeutschten’ Kinder aus Lidice habe sich entschlossen, nach Deutschland zu fahren, um seine nun alte und kranke damalige deutsche Ziehmutter zu pflegen. H. Tomanovd-Weisovd