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Zerrissenes Leben, spät noch, zu verweben, aus samtener Träume Stoff den Mantel breiten über die Spalten, Sprünge, Brüche, Dunkelheiten, über die Pein der Trennung unter eisigem Himmel. Mir träumte, daß ich sterbend träumte, im Tod Dir wieder zu begegnen, und daß der Traum, ein Bild im heißen Hauch, doch Widerschein entfernten Seins. An die Heimat Entflohen unsagbarem Grauen, verließ dich nicht nur mein Fuß, mein Herz verstieß dich. Zurückgekehrt, umfing mich deine Landschaft und ich verwuchs mit Sprache und Musik, die dir entwachsen. Jetzt in der Ferne wächst die Liebe weiter, weinend, daß dich dein Dämon nicht verlassen. Sie fing auch wieder an, Gedichte zu schreiben, Dichterlesungen und Diskussionen zu besuchen. Ihre Gedichte legte sie Rudolf Felmayer vor, selbst ein Dichter und Herausgeber einer Lyrikreihe im Bergland Verlag. Ihr Kontakt mit Felmayer ging über viele Jahre. Sie wurden Freunde. Von 1961 an erschienen vereinzelt Gedichte von ihr, so in der Tageszeitung ‚Neues Österreich“. Schließlich kam 1964 — sie war 66 Jahre alt — ihr erster Gedichtband ,,Flutumdunkelt“ heraus. Ihm folgten im Laufe der Jahre vier weitere Bande: Zwischen Herzschlag und Staub; Kosmosrose; Steinzeit; Versteckenspiel. Vordergründig beschäftigen sich ihre Gedichte oft mit der geliebten Natur. Doch ebenso viel und mehr noch handeln sie von der Bedingtheit des Menschen, von seinen Beziehungen, vom Krieg und der Unterdrückung, von der Liebe und vom Verlust, von Altern und Tod. Ihr Mann starb 1980. Ihre Trauer drückte sie in Gedichten aus. Die Einladung ihrer Tochter, bei ihr in England zu leben, nahm sie nicht an. Sie wünschte, bei den Weinbergen, Hügeln und Wäldern Wiens zu bleiben. Sie hatte sich ihre eigene Stellung im literarischen Leben Wiens errungen, war bekannt. Eine ihrer vorzüglichen jährlichen Pflichten bestand darin, den Schülerinnen einer Oberstufenschule für Madchen vorzulesen, deren Lehrer ein gliihender Bewunderer ihrer Gedichte war. Selbst nachdem sie auf vereistem Weg am Nußberg gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte, lebte sie, inzwischen in den hohen Achtzigern, weiter allein. Sie freute sich sehr über die Ehrung, die der P.E.N.-Club zur Feier ihres 85. Geburtstages veranstaltete und war besonders bewegt, als sie Ernst Schönwiese „die Große Alte Dame der österreichischen Gegenwartslyrik“ nannte. 1986, als sie schon nicht länger allein leben konnte und nach England zurückgekommen war, erhielt sie das österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. 1983 wurde sie wärend des jährlichen Winterbesuchs bei ihrer Tochter krank, zu krank, um nach Wien zurückkehren zu können. Von da an lebte sie bei ihrer Tochter. Sie blieb unbezähmbar. Solange sie konnte, ging sie bei jedem Wetter bis zu drei Stunden spazieren. Glücklicherweise wohnte die Familie nahe bei einem Park, in dem sie sich an der Natur und dem Gesang der Vögel erfreuen konnte. Ihr ganzes Leben lang verfolgte sie intensiv das Geschehen in der Welt und in den Künsten, der Literatur und der Dichtung. Obwohl sie keine praktizierende Jüdin war und den Religionsglauben seit langem verworfen hatte, fühlte sie dennoch intensiv jüdisch und war von Ereignissen im Mittleren Osten und in Israel sehr betroffen. Sie und Ernst besuchten Israel in den 1970er Jahren. Sie debattierte gerne und verwickelte jedermann in Diskussionen über politische und soziale Fragen, Kunst und Literatur, über das Leben. Das Gespräch war ihr so notwendig wie das Atmen. Bis zum Ende war ihr Geist von dieser Energie erfüllt. Allmählich wurde sie gebrechlicher und kränklicher. 1988 starb sie nach einem weiteren Sturz. Bei ihrem Begräbnis wurde vom Grabredner an einen Ausspruch eines ihrer Freunde erinnert: „„Die am intensivsten lebendige Person, die ich je gekannt habe!“ In all dieser Zeit schrieb sie über ihre Erfahrung des Alterns und der Zwischenzone zwischen Leben und Sterben. Als sie nach ihrem letzten verhängnisvollen Sturz auf den Arzt wartete, fragte sie, ob ihr letztes Gedicht ins Reine geschrieben sei, um in die letzte Sammlung ihrer Gedichte eingereiht werden zu können. Ein kleines Unglück ist es, daß dieser letzte Band ihres Werks in der deutschsprechenden Welt bislang nicht veröffentlicht wurde. Aus dem Englischen von S. Bolbecher und K. Kaiser. - Helle Mittler, geboren 1933 in Moskau, studierte englische Literatur in Cambridge, wandte sich nach kurzer Tätigkeit als Englischprofessorin der Sozialarbeit zu und ist jetzt vorwiegend an der Manchester University tätig. Sie lebt in Cheadle Hulme (Cheshire). Am 2. April 1998 gedachten das Österreichische P.E.N-Zentrum und die Theodor Karmer Gesellschaft des 100. Geburtstages von Hedwig Katscher. Hans Raimund sprach einleitende Worte (sein Aufsatz wird in der Zeitschrift „‚Literatur und Kritik“ nachzulesen sein) und Traute Foresti las aus unveröffentlichlichten Texten Katschers.