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Sophie Haber Wir schreiben jetzt das Jahr 1998! Ist es möglich, daß es schon 60 Jahre her ist, daß sich mein Leben und das Schicksal meiner Familie und das von Millionen jüdischer Menschen von einem Tag auf den anderen dramatisch verändert hat? März 1938: Ich lebte damals mit meinen Eltern und Geschwistern in Wien im 20. Bezirk auf der sogenannten „Mazzes“ -Insel. Ich will aber noch kurz schildern, was vorher war: Ich bin Jahrgang 1922. Mit meiner Familie lebte ich bis 1930 in Krakau, wo ich auch geboren bin. Meine Eltern, die sich als Altösterreicher fühlten und Haus und Wohnung schon in Wien hatten und auch Österreicher waren, lösten den Haushalt in Krakau auf und wir übersiedelten nach Wien. Rückblickend kann ich sagen, daß meine Eltern assimilierte, aufgeschlossene Juden waren, trotzdem gläubig und religi6s. Ich war die jüngste und somit das Nesthäkchen meiner Eltem. Im Jahre 1936 begann ich eine Schneiderlehre in einem jüdischen Modesalon. Höhere Schulen besuchte ich nicht. Meine drei Brüder studierten, und mehr war auch für meine Eltern materiell nicht möglich. Wir waren ein normales mittelständisches jüdisches Haus. Soweit ich mich erinnern kann, war der 11. März 1938 ein Freitag. Wir waren alle in der Wohnung, bis auf einen meiner Brüder, der dann, etwas später, mit folgender Nachricht kam: „‚Schuschnigg hat abgedankt und Hitler marschiert in Österreich ein.“ Schuschniggs letzter Satz in seiner Rede war: „‚Gott schütze Österreich!“ Gott hat Österreich nicht geschützt und erst recht nicht die Juden. Schon am nächsten Tag begann in meiner Familie das Kopfzerbrechen: Wohin? Die Hauptfrage meiner Eltern war, wohin mit den Söhnen? Daß junge Männer am meisten gefährdet waren, stellte sich schon bald heraus. Im August 1938, als die Grenzen zur Schweiz noch offen waren, fuhren meine Brüder dorthin. Das Geschäft meiner Eltern wurde arisiert, das Leben immer schwieriger. Der Mietzins aus dem Haus, welches meinen Eltern gehörte, wurde von der Nazipartei kassiert, sodaß bei uns richtige Not einkehrte. Als auch ich als 16jähriges Mädchen nicht mehr sicher war und die Schikanen immer mehr zunahmen, entschlossen sich meine Eltern, auch mich in die Schweiz zu schicken. Ende Oktober 1938 war es so weit, ein Bruder rief meine Eltern an, er hätte einen Schlepper (Grenzschmuggler) organisiert, der mich ab Hohenems bis zur Schweizer Grenze bringen würde. Am gleichen Tag, als der Anruf kam, brachten mich meine Eltern zum Westbahnhof, wo wir nur kurz Abschied nahmen, um nicht aufzufallen. Meine Eltern und ich ahnten nicht, daß dies der letzte Abschied und der letzte Kuß sein würden. Ganz kurz — das Schicksal meiner Eltern: Unsere Wohnung wurde arisiert, das Haus übernahm die NS-Partei. Meine Eltern wurden in den 2. Bezirk übersiedelt, von dort 1942 nach Theresienstadt. Mai 1944 bekam ich von meinen Eltern folgende Nachricht: ‚Wir werden jetzt nach Birkenau (Auschwitz) umgesiedelt. Von dort werden wir uns melden.“ Dies war das letzte Lebenszeichen. Ich wurde in Hohenems, wie verabredet, vom Schlepper abgeholt. Als es finster geworden war, gingen wir über Felder, bis zu den Knien in nasser Erde marschierend, bis zur Grenze. In Diepoldsau, bereits in der Schweiz, standein Taxi für mich bereit, das mich nach St. Gallen brachte, wo mich meine Brüder erwarteten. Zwei Tage danach wurde ich vom Polizeihauptmann Paul Grüninger empfangen. Er ermöglichte meinen Aufenthalt in der Schweiz. Ich war gerettet! Auch wenn ich keine Möglichkeit hatte, in Wien höhere Schulen zu besuchen, so kann ich jetzt sagen: meine Universitätsjahre hatten begonnen. Die Schule des Lebens. Wir wußten, daß der Aufenthalt in der Schweiz für uns nicht von Dauer sein konnte. Wir mußten uns verpflichten, jede Möglichkeit einer Weiter- oder Ausreise zu nutzen. Wir durften keine Arbeit annehmen und wußten, die Schweizer Regierung war uns Emigranten nicht beson10 ders freundlich gesinnt. Männer wurde interniert, ältere Menschen und Frauen durften ohne polizeiliche Genehmigung nicht ihren Wohnort verlassen. Trotzdem — wir hatten zum Unterschied von sechs Millionen jüdischer Menschen überlebt, und dafür sind wir dem Schweizer Volk dankbar. 1941 habe ich geheiratet. 1944 bekam ich ein Kind — meinen Sohn Paul. Mai 1945. Der Krieg ist zu Ende, der Faschismus durch die Alliierten besiegt. Mein Mann und ich standen vor der Frage: Was nun? Wohin mit uns? Wir entschlossen uns, nach Österreich zurückzukehren. Warum? Diese Frage wird mir oft gestellt: , Warum sind Sie nach Österreich Amerika? Für die meisten jüdischen Menschen war Amerika durch das dern gesperrt! Afrika? Was mach ich dort? Und so überlegten wir die Rückreise nach Österreich, aus einer nicht ganz richtigen Annahme heraus, daß das österreichische Volk aus den Erfahrungen der Kriegsjahre, aus der Verlogenheit des Faschismus doch einiges gelernt hätte. Wirnahmen an, daß vor allem die Grausamkeiten, die vielen Toten, auch unter den Österreichern, Grund genug gewesen wären, um umzudenken. Ich war überzeugt, daß Österreich jetzt imstande war, auf Grund der letzten schrecklichen Jahre eine wahre Demokratie aufzubauen. Mein gleichberechtigt wären, egal welche Religion oder politische Ansicht sie haben. Faschismus würde es natürlich nicht geben. Es kam leider nicht so, wie wir es uns vorgestellt hatten. Das Gedankengut der Nazis war zum Teil mit Begeisterung aufgenommen worden. Es war nicht möglich, dies auszumerzen. Ich habe offenen Antisemitismus zwar kaum zu spüren bekommen, aber es war mir bewußt, daß er machung. Juden, die aus den KZs oder der Emigration zurückkamen, Kriegsheimkehrer, oder gar geflüchtete Nazis. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß weder mein Mann noch ich das zurückerhalten haben, was man uns gestohlen — will sagen arisiert —hat. 1946 bekam ich in Wien noch meine Tochter Ruth. Die ersten Jahre in Wien, mit meinen zwei Kindern, waren voller Entbehrungen. Wir hatten weder von der Regierung noch von irgendwo sonst Unterstützung. Das Haus meiner Eltern hätte ich auf Grund eines Gerichtsurteils zurückbekommen, aber ~ ich hätte den „‚Käufern“ dieses Hauses 60.000 Schilling zurückzahlen müssen. Dies war damals ein Vermögen, wir hatten nur zwei kleine Kinder, keinen richtigen Wohnsitz und fixen Arbeitsplatz. Unser Schicksal war nur ein Beispiel unter Tausenden anderen. Aber eben deshalb waren wir insoweit politisch tätig, als mein Mann und ich bemüht waren, eine bessere, eine demokratische Regierungsform zu ermöglichen. Ich glaube, daß wir jetzt in Österreich eine gute Demokratie haben. Eine noch bessere wäre bereits Utopie, die — vielleicht- unsere Enkel errichten werden. Wir können hier in Frieden leben, und ich möchte behaupten, daß unsere Aufklärungsarbeit bestimmt ein klein wenig dazu beigetragen hat; auch, daß unsere leider sehr kleine jüdische Gemeinde bei den zuständigen Stellen respektiert und anerkannt wird. Trotzdem: der Antisemitismus lebt weiter und wird von den „Ewig-Gestrigen“ und Neo-Rechsextremisten geschürt. 1956 hat sich mein Mann selbständig gemacht. Auch ohne irgendwelche Unterstützung ist es uns gelungen, einen bescheidenen Wohlstand zu erreichen. Mit meiner kleinen Familie bin ich sehr glücklich. Mein Sohn ist Professor an der Universitäts-Klinik, meine Tochter Prokuristin in einer internationalen Handelsfirma. Meine drei Enkerln, die auch sehr gelungen sind und zum Teil noch studieren, sind natürlich meine Lieblinge. Nun, das wäre ein kurzer Überblick über sieben Jahrzehnte. Das Schicksal einer Jüdin, welche das Glück hatte, der „‚Endlösung“ der Faschisten zu entkommen, die industrielle Vernichtung zu überleben. Dafür bin ich dankbar und hoffe, daß die nächsten Generationen so eine schreckliche Zeit nicht erleben werden. ng