die Gedanken an den Krieg in den Hintergrund. Auf der Weiter¬
fahrt in der meist noch unberührten Landschaft denke ich unwei¬
gerlich wieder an die Schlachten, an Ungarettis Fluß-Assoziatio¬
nen: „Heute morgen habe ich mich ausgestreckt / in einer Was¬
serurne / und wie eine Reliquie / habe ich geruht.“
„Sie dachten nur in Divisionen und Menschenmaterial. Sie
rauften sich alle um Divisionen und trieben sie nur in den Tod,
wenn sie sie bekamen. Sie waren alle erledigt“, gesteht ein
englischer Major Frederic Henry. Die elf Isonzo-Schlachten
brachten den Italienern einen Landgewinn von wenig mehr als 30
km, eine lächerliche Zunahme an Boden, bedenkt man die Zahl
der Toten und Verwundeten, die auf über 300.000 beziffert wird:
die Österreichischen Verluste lagen etwas darunter. Bis zum
Oktober 1917 gab es, sieht man von der sechsten Isonzo-Schlacht
ab, bei der die 3. italienische Armee Görz erobern konnte, keine
großen Veränderungen, bis Mitte September die ersten Deut¬
schen an der Italienfront eintrafen. Ludendorff hatte sich zwar
gegen eine deutsche Unterstützung der k. und k. Offensive in
Italien ausgesprochen, doch Kaiser Wilhelm II. und Hindenburg
stimmten einer Beteiligung deutscher Divisionen an der Südwest¬
front zu. Das Gebiet um Kobarid wurde heimlich aufgerüstet.
Russische und serbische Kriegsgefangene bauten nachts, um von
den Italienern unbemerkt zu bleiben, die Zufahrtsstraßen und
Nachschublinien aus, darunter auch die Straße zum Pledil-Paß.
Als ich das Kobariski Muzej betrete, das vom Europarat 1993
prämiert und zum „Museum Europas “ ernannt worden ist, ist die
Eingangshalle überfüllt. Italienische Jugendliche versuchen ver¬
schiedene Fahnen den entsprechenden Staaten und Nationen zu¬
zuordnen, die neben dem Treppenaufgang auf die Herkunftslän¬
der der Soldaten verweisen sollen.
615.000 italienische, deutsche und österreich-ungarische Solda¬
ten standen sich in der 12. Isonzo-Schlacht gegenüber. Die Vorbe¬
reitungen der Österreicher für den geplanten Angriff am 22. Oktober
1917 waren gigantisch: allein von den rund 105.000 gedeckten
Güterwägen der k. und k. Monarchie wurden etwa 60 % bis 70 %,
von den 170.000 offenen Wägen circa 40 % für den Transport von
Munition, Kriegsmaterial, Heizstoffen und Verpflegung verwendet,
dies führte zu gravierenden Versorgungsproblemen im Hinterland.
Der Krieg fand im Gebirge statt: die Soldaten schleppten im Schnitt
etwa 40 kg Gepäck; für den Transport eines schweren Geschützes
zu einer Gebirgsstellung war eine gute Woche nötig. Was allein an
persönlicher Ausrüstung erforderlich war, ist im ersten Stock des
Museums bestens dokumentiert. In den Schaukästen liegen Eisen¬
beschläge für die Schuhe, Schneereifen und Schneebrillen, Gama¬
schen, Signallampen und Feldflaschen, ja sogar Kaffeemühlen, Kä¬
seraspeln und eine Sodawasser-Flasche mit dem Siegel der 5. k. und
k. Armee. Die Ansammlung der Gegenstände erscheint oft zufalli 8
mir wurde erst durch die Lektüre von Hemingways Roman ihre
Funktion deutlich. Im oberen Stockwerk zeigen Photographien die
Unterkünfte und Stellungen auf dem Mrzli vrh und im über 2.000 m
hohen Krn-Gebirge. Vor den Holzbaracken sind Sandsäcke aufge¬
baut worden, viele Kampfplätze konnten nur mit Leitern und Seilen
erreicht werden.
Während ich den Entlüftungsapparat einer Kaverne betrachte,
betreten die italienischen Jugendlichen den Raum und zeigen
einander die deutschen Gasgranaten, die im Becken von Bovec
ehemals Flitsch eingesetzt worden sind. Zwölf Tonnen Phosgen
ergossen sich um 2 Uhr früh des 25. Oktober über die italieni¬
schen Stellungen zwischen Bovec und dem Isonzo. Die durch den
plötzlichen Beschuß aus dem Schlaf gerissenen Soldaten waren
damit beschäftigt, ihre Waffen zu prüfen oder Kaffee zu trinken;
selbst Gasmasken, die kaum vorhanden waren, hätten bei dieser
Gaskonzentration den Tod nicht verhindern können, zudem schu- |
fen Schneeregen und Nebel ideale Bedingungen für den Einsatz
des Giftgases. Noch Tage danach fand man italienische Soldaten
in der Leichenstarre vor ihrem Kaffee sitzend.
Die Italiener waren nicht von der Offensive überrascht — der
Stellungskrieg dauerte bereits 30 Monate -, sondern von der
Massierung der Angriffstruppen. Den Giftgasattacken folgten
schwere Infanterieangriffe. Als die österreichischen Offiziere
Kobarid erreichten, wußten sie noch nicht, welche Bedeutung die
Einnahme dieses Ortes haben sollte; nicht nur die Italiener, son- ;
dern auch die ehemaligen Alliierten haben der Schlacht den 8
Namen des Ortes verliehen: Kobarid/Caporetto/Karfreit ist Syn¬
onym für die Einkesselung aller italienischen Truppen zwischen
Bovec und Tolmin, es steht für den Anfang der bedeutendsten
Niederlage der westlichen Alliierten und für den wichtigsten Sieg
der Mittelmächte in West- und Mitteleuropa seit vier Jahren. |
Dennoch bedeutete diese Durchbruchsschlacht nicht den endgül¬
tigen Sieg der Mittelmächte. Italiens 3. Armee baute bereits die u
Piaveverteidigung auf, erhielt Verstärkung von den Briten und ®
Franzosen.
Ich betrete eine nachkonstruierte Kaverne, in der eine Solda¬
tenpuppe den letzten Brief an ihren Vater schreibt; derpathetische ®
Wortlaut wird in mehreren Sprachen über Lautsprecher übertra¬
gen. Der Film über die 12. Isonzo-Schlacht, der in einem anderen
Raum die stündlichen Veränderungen des Angriffs der Österrei¬
cher an jenem fatalen 24. Oktober 1917 zeigt, ist zwar um vieles
informativer, kommt aber ebensowenig ohne die effektheischen¬
den Mittel der Musik, des Lichtes und der Farben aus.
Ich gehe noch einmal durch die Räumlichkeiten des Museums,
beobachte einen alten Mann, der Originaldokumente des italieni¬
schen Generalstabchefs Cadomo studiert. Luigi Graf Cadorna
war es, der bereits im Herbst 1914 die Schlachtpläne ausgearbei- E
tet und einen Vorstoß über den Isonzo anderen Plänen vorgezo- |
gen hatte. Er konnte nicht ahnen, daß allein die 12. Isonzo¬
Schlacht 10.000 Tote, 30.000 Verwundete und 294.000 Gefange¬
ne zur Folge haben würde. Dennoch war der Sieg der Österreicher
ein klassicher Pyrrhussieg. Das ‚‚Wunder von Karfreit“ endete in
einer Katastrophe: die Monarchie hatte nicht die Versorgungs- |
mittel für eine dermaßen hohe Anzahl an Kriegsgefangenen; die
Güterwägen wurden erneut für den Transport von Kriegsmaterial
und Soldaten eingesetzt, in den Städten der Monarchie fehlten
Heiz- und Nahrungsmittel. „Jede Armee reist auf ihrem Bauch“,
sagt Hemingways Hauptfigur auf der Flucht vor den Österrei¬
chern und schlägt sich den Magen voll.
Als ich das Museum verlasse, um schließlich über Bovec und
Pledil nach Österreich zurückzukehren, zieht ein Gewitter auf. Im
Wetterleuchten erblicke ich nun, in Erinnerung an Hemingways
erste Romanseite, das Aufleuchten des Artilleriefeuers.
Sabine Gruber, geboren 1963 in Meran, Germanistik-Studium in
Innsbruck und Wien. 1988-1992 Lektorin in Venedig. 1994-1995
Stadtschreiberin in Klagenfurt. Veröffentlichte Lyrik, Prosa,
Hörspiele und ein Stück, zuletzt den Roman ‚Aushäusige“ (Kla¬
genfurt 1996). 1998 Mitherausgeberin von „Es wird nie mehr ein
Vogelbeersommer sein... In memoriam Anita Pichler (1948 ¬
1997)“, Mit ihrer besonderen sprachlichen Situation zwischen
Deutsch und Italienisch, zwischen nördlicher „Hochsprache“
und südlicher „Umgangssprache“ setzte sie sich in einem Bei¬
trag in Zwischenwelt 3 — Literatur in der Peripherie (Wien 1992)
auseinander. Sabine Gruber lebt als freie Schriftstellerin und
Mitarbeiterin der Grazer Autorenversammlung in Wien.