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Joze Boschitz Wien - Sarajevo - Tuzla und zurück Eindrücke einer Arbeitsreise Nismo jeli, nismo krali, — Jesmo samo ratovali! Wir haben nicht gegessen, wir haben nicht gestohlen, — wir haben nur Krieg geführt! Der Schriftzug in roter Farbe gliedert die fensterlose Hausmauer in ihrer gesamten Höhe und Breite. Das Gebäude, ein einstöckiges Einfamilienhaus, steht allein aufeiner Wiese neben der Straße von Sarajevo nach Tuzla. Die Mauer ist mit Einschußlöchern übersät, das Dach in seiner Mitte weit aufgerissen, der Ort von Mensch und Tier verlassen. Es ist ein sonniger Nachmittag im Mai. In einem Wagen der OSCE fahre ich entlang der ehemaligen Frontlinie zu einem Seminar in Tuzla. Immer wieder erscheinen hinter grünen, blühenden Bäumen zerschossene Hausmauern mit skelettierten Dächern — leere Räume voller Spuren vergangener Kriegshandlungen. Solche Orte gibt es in Bosnien noch dörferweise. “Schwarze Löcher“ heißen sie in der Bevölkerung. Der Wagen macht halt an einer Raststätte. Wir setzen uns auf die Terrasse, bestellen uns Getränke und kommen schnell ins Gespräch. Jürgen ist Bildungsbeauftragter des österreichischen Vereins KulturKontakt in Bosnien. Seit 13 Monaten lebt er in Sarajevo, von wo aus er im Rahmen der OSCE unterschiedliche Projekte organisiert und betreut. Dieses Seminar in Tuzla, das ich gemeinsam mit einer Vertreterin aus dem österreichischen Unterrichtsministeriums und einem Vertreter des Elternvereines gestalten soll, hat die Vorbereitung zur Gründung einer gesamtbosnischen Eltern- und Lehrervereinigung zum Ziel. Wir haben nur spärliche Informationen über die gegenwärtige Situation im Bildungswesen dieses zerrissenen Landes. Samira und Rasmina, Studentinnen der Germanistik an der Universität in Sarajevo, werden unsere Dolmetscher sein. Beide lebten längere Zeit in Deutschland und sprechen fließend Deutsch. Sie lieben Sarajevo, ihre Stadt, und können sich nicht vorstellen, wo anders zu leben. Wir zahlen in DM und fahren weiter. Das Land ist sanft hügelig und dicht bewaldet. Tief in diesen bosnischen Wäldern schlug ehemals Tito sein Hauptquartier auf. In Jaice, einem Ort mit symbolhafter Bedeutung für die jugoslawische Geschichte, wurde 1943 das erste Konzept für ein Nachkriegs-Jugoslawien vorgelegt. Über 4.000 Denkmäler erinnern in dieser Republik an die Kämpfe, die Opfer und an die Verbrechen der Okkupatoren. Die jahrhundertelange Tradition der Toleranz im Zusammenleben der großen Religionsgemeinschaften bekam jedoch im Zweiten Weltkrieg einen tiefen Riß. Der jüngste Krieg und seine Betreiber vertieften ihn noch mehr. Land und Familien sind auseinandergerissen, Kulturdenkmäler beschädigt oder zerstört, ganze Dörfer verwüstet, Menschen vertrieben oder tot. Den Überlebenden bleibt ein schreckliches Kriegstrauma und eine ungewisse Zukunft zurück. Terzun teten N ry N RS) N , KEIN 18% At voPPplate Or es R ES ber .B€60,A NOY \\> Mary DENMIIA Bleistiftzeichnung von Joze Boschitz, Sarajevo Mai 1998 Die dunklen Walder, durch die wir fahren, verbergen dieses Grauen, als ware es ein Geheimnis. Tuzla Nach zweistiindiger Fahrt erreichen wir Tuzla, die Salzstadt (türkisch: tuz = Salz). Sie wird von Angehörigen aller drei Nationalitäten bewohnt: Muslimen, Serben und Kroaten. Einer klugen und politisch reifen Stadtregierung mit ihrem Bürgermeister an der Spitze ist es gelungen, die Stadt und ihre Bewohner während der gesamten vier Kriegsjahre vom tödlichen Nationalismus fernzuhalten. Eine Vielzahl kultureller und politischer Organisationen arbeitete unermüdlich an der Sicherung der friedlichen Koexistenz der Bevölkerung. Tuzla gilt bereits als Musterbeispiel erfolgreicher antinationalistischer Politik während des Krieges. Die Menschen sind sich dessen bewußt und lassen auch heute nicht nach. Das Hotel, in dem wir wohnen, war ehemals ein renommiertes Kurhaus. Jetzt streiten sich der Kanton und die Stadt um die Besitzrechte. Für die Angestellten hat dieses Tauziehen verheerende Folgen: seit fünf Monaten haben sie keinen Lohn gesehen. Sie bleiben und arbeiten weiter — wohin sollen sie denn auch gehen? Nach und nach treffen auch die Seminarteilnehmer ein: aus der Region Sarajevo, aus Bréko, Sokolac und der Stadt Tuzla selbst. Es sind Angehörige aller drei Nationalitäten und politischen Entitäten Bosniens. Eltern und Lehrer, Vertreter aller Schultypen von der Grundschule bis hin zur höheren Schule. 13