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nach Sarajevo beträgt eine knappe Stunde. Der Ortswechsel ist nicht bloß ein räumlicher. Ich habe einen Raum betreten, wo ein anderes soziales und kulturelles Leben parallel zu meinem verläuft. Zweieinhalb Jahre nach dem Krieg, der mir nur von den Medien bekannt ist, gehe ich durch die ehemals belagerte und schwerst beschossene Stadt. Es ist ein Dienstag , kurz nach Arbeitsschluß. Das Zentrum - die Plätze und die Fußgängerzonen - sind voller Menschen. In den zahlreichen Straßencafes sitzen auf Korbsesseln fast durchwegs junge Frauen und Männer und unterhalten sich gelöst. Niemand hat es eilig. Soldaten der SFOR in sauberen Tarnanzügen und mit dunkel bebrillten Gesichtern begegnen mir in der „Ba$Car$ija‘“, dem alten Markt von Sarajevo. Es sind Franzosen mit barock tätowierten Armen. Ein alter Mann mit einer weißen Kopfbedeckung sitzt auf einer Bank vor einer Handwerkstätte. Die Auslage ist überfüllt mit Kupferkannen, Kaffeemühlen und anderen Nützlichkeiten. Eine andere Werkstätte produziert Herde, Öfen, Ofenrohre und Schaufeln aus Eisenblech. Diese Waren fanden während des Krieges reißenden Absatz. Immer wieder höre ich den hellen Klang der Hämmer. Eine Mauer mit vergitterten Öffnungen schirmt den Hof vor der großen und berühmten ‚„‚Begova dZamija“ (Beg-Moschee) ab. Sie ist erst seit kurzem wieder zugänglich. Konstantin Kaiser Die ausgedehnte Gegenwart für den zum 100. Mal geborenen Theodor Kramer I. Sie sind gekommen, sich zu rechtfertigen: daß sie noch da sind, der Rübenzupfer, der Nußaufschläger, der Gemeindearme, der Fahrradliebhaber unter den Landarbeitern, der vom Steinbruch, der mit dem Sprengstoff umzugehen wußte, das Fräulein von der Post, das Briefe unterschlug, der arbeitslose Schuhzuschneider mit dem Ausweis der Freien Gewerkschaft sie sind gekommen, sich zu rechtfertigen, daß sie noch da sind. Sie rechtfertigen sich mit ihrem Dahinschwinden noch vor dem großen Töten, das von der Hoffnung ließ: Es hätte nicht sein sollen. Sie rechtfertigen sich mit dem gelebten Augenblick, der verrinnt. Durch den Vagabunden, hingefällt, ein Sack alter Kleider, schreit es uns an: Gebt uns eine Gegenwart, dehnt sie aus, macht sie weit, daß wir uns finden können DIESSEITS VON EUREM MORGENROT. Grabungsarbeiten am Vorplatz und ein Mauergerüst lassen vermuten, daß die Kriegsschäden noch nicht behoben werden konnten. Frauen, Männer und Kinder stehen gebückt am facettierten hölzernen Brunnen und reinigen ihre Hände. Auf der gegenüberliegenden Gassenseite steht eine kleine Moschee. Sie dient heute als Gedenkstätte der im Krieg zerbombter Moscheen. Abwechselnd klagen eine Frauen- und eine Männerstimme über Tonband die ‚serbischen und kroatischen Verbrecher“ an. Auf den Wänden im Inneren der Moschee wird auf Photographien das Ergebnis der gezielten Vernichtung dieser religiösen und kulturellen Güter schmerzlich vor Augen geführt. Die Restaurierungsarbeiten in der Innenstadt von Sarajevo können auch heute noch nicht verbergen, wie heftig die Stadt beschossen worden ist. Große, rußgeschwärzte Löcher in den Fassaden, ausgebrannte Kulturdenkmäler (wie das Stadtrathaus im pseudomaurischen Stil) und die deutlichen Spuren erbitterter Straßenkämpfe sind wie ein Kriegsecho, das noch immer andauert. Auf der Fahrt zum Flughafen, entlang der Zeilen eingeknickter, entwandeter und ausgebrannter Wohnblöcke und Bürotürme, wird die Stille, die das Gelände beherrscht, laut und körperhaft. Wien, 4. Juni 1998 I. Am Anfang dieses Jahrhunderts ist aufgestellt ein stählerner Block, ein Ungetüm, die aufgetürmte tote Zeit, eine Maschine, die saugt die lebendige Zeit. Und am Ende dieses Jahrhunderts ist aufgestellt ein stählerner Block, ein Ungetüm, die aufgehäufte vergangene Arbeit, Maschine, die saugt die Zeit, und Aufseher kommen, verlangen die Zeit, die sie verplant haben mit ihrer Vergangenheit, die sie unsere Zukunft nennen, und so zwischen der Vergangenheit und ihrer Zukunft hat sich die Gegenwart zusammengezogen zu einem Nadelöhr, doch geht’s da nicht nach Jerusalem noch in irgendeinen Himmel. m. Da sie kamen, sich zu rechtfertigen, daß sie noch da sind, und der Vagabund ihn bat, schenkte ihnen unser kluger, kräftiger Freund, dieser leicht ergriffene Theodor Kramer, eine ausgedehnte Gegenwart, Gedicht für Gedicht, sogar einen Himmel schrieb er hinein als das schöne Dach über ihrem Tun, und solange er schrieb, Gedicht um Gedicht, waren sie da und konnten sich finden. 15