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Vladimir Vertlib „A Lejbn“ Die Sowjets hätten ihn vor den Nazis gerettet, erklärt mir Ben. Wären die Bolschewiken nicht gewesen, hätten sie nicht das Land mit Terror überzogen, wäre er, Ben, nur mehr ein Haufen Knochen, seit Jahrzehnten irgendwo in der Erde verscharrt. Kein Mensch würde sich an ihn erinnern. Angehörige habe er ohnehin keine mehr. Ben stammt aus einer weißrussischen Stadt, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gehört hat und im September 1939 von der Roten Armee besetzt wurde. Damals war Ben sechzehn. Wenige Monate vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wurden Bens Eltern festgenommen. Ihn selbst holte man einige Tage später. Der Untersuchungsrichter schlug ihm ins Gesicht, brach ihm das Nasenbein. Ben gestand bald, wessen man ihn bezichtigte, unterschrieb, was man ihm vorlegte. Es folgte ein Prozeß im Schnellverfahren. Der Richter befand, daß zehn Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Verbannung für den „Volksfeind“ eine angemessene Strafe seien. Die nähere Urteilsbegründung hat Ben vergessen. Dann ging es nach Ostsibirien — fünf Wochen im Gefangenenzug, zusammen mit siebzig anderen Häftlingen im Güterwaggon. Nach Verbüßung der „Strafe“ wurde Ben rehabilitiert und durfte 1956 in seine Heimatstadt zurückkehren. Er erfuhr, daß seine Eltern im Lager umgekommen und alle anderen Verwandten, Großeltern, Tanten, Onkeln, von den Nazis ermordet worden waren. ,, Hatten die Sowjets mich nicht nach Ostsibirien verfrachtet“, erklärt mir Ben, „‚säße ich bestimmt nicht hier und könnte dir nicht all diese Sachen erzählen.“ Seit vielen Jahren schon lebt Ben in Wien. In seiner Heimatstadt gibt es nur mehr wenige Juden. Wer die Nazizeit überlebte oder nach dem Krieg aus dem sowjetischen Hinterland zurückgekehrt war, wanderte meist irgendwann nach Israel, Amerika oder andersw ohin aus. „Überall auf der Welt gibt es Juden aus unserer Stadt“ , sagt Ben. ‚Nur nicht in unserer Stadt selbst.“ Als die Rote Armee 1939 in Ostpolen einmarschierte, erinnert sich Ben, habe sein Vater Mutters rotes Kleid zerschnitten, an eine Stange gebunden und aus dem Fenster gehängt. Aus dem zweiten Stock sah man hinunter auf den Einheitshaarschnitt und die Gewehrläufe der im Gleichschritt vorbeimarschierenden Soldaten. Ihre Gesichter konnte man nicht erkennen. Am Straßenrand standen die Bürger der Stadt. Ihre Augen folgten stumm den Kampftruppen und dem Troß, den Lastkraftwagen und Pferdefuhrwerken: endloser Zug, der die Stadt von Ost nach West durchquerte. „Wir werden auch mit den Bolschewiken leben können“, sagte Bens Vater. „Man wird sich eben arrangieren. Auch Kommunisten brauchen Ärzte.“ „Immer noch besser als die Deutschen“, sagte Bens Mutter. „Nach allem, was man so hört.“ „Es wird immer viel geredet, wenn der Tag lang ist‘, meinte Bens Großvater. „Die Deutschen sind zivilisierte Leute, Hitler hin oder her. Schließlich kenne ich sie noch aus dem letzten Krieg. Die Herrschaft der Bolschewiken habe ich hingegen 1920 erlebt, bevor die Polen sie wieder davonjagten. Keine gute Erinnerung.“ Und Bens Großmutter seufzte und murmelte: „So oder so. Es geht immer gegen die Juden.“ 16 In den ersten Tagen der Besetzung verhängte die sowjetische Schüsse. Später war es nach Sonnenuntergang gespenstisch still, so als ruhe sich die Stadt aus vor der Prüfung, die ihr noch bevorstand, Die Kommandantur wurde im Gebäude der ehemaligen WoVerhaftungen polnischer Beamter, Offiziere, Lokalpolitiker und Angehöriger der Oberschicht. Man sprach davon, daß Polen aufgehört habe als Staat zu existieren, daß Sowjets und Nazis das Land unter sich aufgeteilt hätten. Man hörte von requirierten Wohnungen, Enteignungen und Deportationen, von der Auflösung von Institutionen, Parteien und Vereinen, von Selbstmorden und Fluchtversuchen. „Genau wie 1920“, brummte Bens Großvater, während der Regimes verfolge. Das liege in der Natur der Sache, sei immer | schon so gewesen, werde auch in Zukunft so sein. Aber wer # würde gegen die Familie eines Arztes, der sich nie mit Politik beschäftigt habe, vorgehen? Welchen Gewinn sollten die neuen Machthaber daraus ziehen? Als die Ausgangssperre aufgehoben war, sah man auf den Straßen überall jüdische Flüchlinge aus den von den Deutschen besetzten Gebieten, jämmerliche Gestalten, die alles verloren hatten. Manche kamen bei Verwandten oder Freunden unter, doch die meisten übernachteten in der Bahnhofshalle, in leeren Güterwaggons, in Parkanlagen, auf Feldern außerhalb der Stadt und in Synagogen. Tagsüber bettelten viele von ihnen auf der Straße oder waren unterwegs auf der Suche nach Arbeit oder Unterkunft. Bens Vater, ein in der Stadt angesehener praktischer Arzt, behandelte die Flüchtlinge kostenlos. Was sie von ihren Erlebnissen in der deutschen Besatzungszone erzählten, klang unglaublich, unvorstellbar. Und inmitten des Elends standen die Soldaten der Roten Armee staunend, mit offenen Mündern sogar und leuchtenden Augen, vor den Auslagen der großen Geschäfte, die, wenn auch von Privatpersonen oder den neuen Machthabern schon geplündert, noch den Glanz eines ungekannten Reichtums ausstrahlten. Ben- weiß heute nicht mehr, wie sein Vater den sowjetischen Major kennenlernte, ob durch Zufall oder in seiner Eigenschaft als Fürsprecher der zahlreichen Flüchtlinge, für deren Anliegen er sich bei der Militärbehörde mehrfach eingesetzt hatte. Doch eines Tages, es war im Oktober 1939, bald nach dem Ende der Kampfhandlungen, war der Major zum Nachmittagstee — dem heiligsten unter den zahlreichen Ritualen, die sich in Bens Familie schon seit Jahrzehnten hielten - eingeladen. Heftige Diskussionen waren dem Ereignis vorangegangen, doch schließlich hatten sich auch die Großeltern überzeugen lassen, daß man sich der neuen Zeit, dessen Verkörperung der Major zweifellos darstellte, nicht verschließen dürfe, daß der Besuch der Familie nicht zum Nachteil gereichen werde, daß der Gast schon zugesagt habe. Und wer auch würde es wagen, einen Major der Roten Armee wieder auszuladen? Großmutter zog das schöne blaue Kleid an, Großvater das weiße Hemd mit Goldmanschetten und das Gilet mit Streifen, Vater den dunkelbraunen Anzug, Maßarbeit von Finkelkraut, dem besten Schneider des Viertels, Mutter die Seidenbluse mit Brosche, und nur Ben selbst bestand darauf, keinen Anzug, sondern den weißen Pullover mit V-Ausschnitt zu tragen, den er so mochte.