OCR
Er kam, wie vereinbart, um Punkt vier Uhr: Major Mojsej Aronowitsch Berkin, ein Mann um die Vierzig, eine imposante Erscheinung, mit breiten Schultern, großem Bauch, den der zu enge Gürtel in zwei Hälften teilte, so daß der Major ein wenig einer Hummel glich, quadratischem Schädel, engstehenden, grünen Augen, einer wie nachlässig ins Gesicht geklatschten fleischigen Nase, das Haar sehr dicht, nur an den Schläfen leicht ergraut, die Augenbrauen buschig, in der Mitte zusammengewachsen. In den Händen hielt er, in braunes Packpapier gewikkelt, etwas, an dessen Umrissen man klar und deutlich eine Flasche erkennen konnte. Bens Großmutter blickte den Gast, der etwas verlegen im Vorraum stehengeblieben war, streng an, musterte ihn von Kopf bis Fuß und runzelte die Stirn. Es sei bei ihnen streng verpönt gewesen, erinnert sich Ben, Alkohol ins Haus zu bringen. Getrunken wurde nur an Feiertagen und zu festlichen Anlässen und auch da nur Wein. Großvater, bei solchen Dingen immer toleranter, nahm Berkin das Geschenk ab, während Vater eine kurze Verbeugung machte, mit der Hand Richtung Salon wies und sagte: „Es ist uns eine große Ehre, Herr Major. Bitte, folgen Sie mir.“ Der Gast überquerte den Vorraum, blieb plötzlich unschlüssig stehen, betrachtete beinahe ängstlich den blankgescheuerten Parkettboden, fragte, ob er denn die Stiefel ausziehen solle. „Nicht nötig‘, antwortete der Vater. „Nur keine Umstände.“ Im Salon wurde Major Berkin vom Vater den anderen Familienmitgliedern förmlich vorgestellt, wobei der Vater nicht zu erwähnen vergaß, daß Berkin aus Mosyr stamme - also aus einem Ort nicht allzu weit von Bens Heimatstadt, nur weiter östlich, den Pripjat flußabwärts - und somit eigentlich fast ein Landsmann sei. Großvater stellte die Wodkaflasche, denn eine solche war erwartungsgemäß unter dem Packpapier verborgen gewesen, kommentarlos auf den Tisch, während Großmutter von der Zeit zu sprechen begann, als es weder die Sowjetunion noch die Republik Polen, sondern nur das Russische Reich und somit auch zwischen ihrer Stadt und Mosyr keine Grenze gegeben hatte. „Die wird es auch in Zukunft nicht mehr geben“ ‚sagte Berkin, während er sich auf den ihm zugewiesenen Platz setzte und Mutter den Tee zu servieren begann. „Es liegt in der Zwangsläufigkeit der historisch determinierten Entwicklung, daß das Proletariat sich innerhalb der nächsten Jahre und Jahrzehnte von den Fesseln seiner Unterdrücker befreien und das morsche und überkommene System des Kapitalismus und der sogenannten bürgerlichen Demokratien in sich zusammenbrechen wird. Sozialistische Staaten werden keine Grenzen mehr brauchen, denn freie Menschen kann man weder ein- noch aussperren.‘“ „Major Berkin ist eine Kapazität bei Dingen dieser Art“, erklärte Vater. „‚Er hat in Minsk eine Parteischule besucht, ist für die politische Bildung seiner Soldaten mitverantwortlich und möchte später einmal seine Tätigkeit ganz in den Dienst der Partei stellen.“ „Nun ja, man wird sehen“, murmelte Berkin, der etwas verkrampft auf dem für ihn viel zu engen Stuhl saß, seine klobigen Hände abwechselnd auf den Tisch und auf die Knie legte und sich im gutbürgerlichen Salon der Arztfamilie sichtlich unwohl fühlte. Er sprach Russisch mit starkem jüdischen Akzent, während Bens Vater, im Jahre 1915 Absolvent der Moskauer Medizinischen Fakultät, eine lupenreine Aussprache besaß. Auch sonst, erzählt mir Ben, hätten alle in seiner Familie Polnisch und Russisch perfekt beherrscht. Weißrussisch, die ,, Bauernsprache“, wurde verstanden, aber nicht gesprochen. Jiddisch war als Kauderwelsch verpönt. Nur die Großmutter verwendete es manchmal. „Sie sind also ein gebildeter Mensch, Herr Major“ , sagte Bens Mutter. ,,In unserer Familie wird Bildung sehr hoch geschätzt. Mein Mann ist Arzt. Mein Vater war Rechtsanwalt und mein Großvater ein angesehener Rabbiner, ein Gelehrter. Bildung ist das Tor zur Welt. Nur daß es in Polen für Juden kaum möglich gewesen ist, zu studieren. Für fast alle Studienfächer hat es einen Numerus clausus für Juden gegeben. Außerdem wurden jüdische Studenten von ihren antisemitischen Kommilitonen regelmäßig verprügelt. Unser Sohn wollte deshalb in Prag Medizin studieren, um später einmal die Praxis seines Vaters übernehmen zu können... Trinken Sie den Tee mit Milch oder mit Zitrone? Nehmen Sie doch ein Stückchen Kuchen, Herr Major. Ich habe ihn selbst gebacken.“ „Genosse! Genosse Major“, korrigierte sie Berkin, während er sich den Kuchen in den Mund stopfte. ‚‚Den Tee bitte mit Zitrone. Aber was ist, wenn ich fragen darf, ein Numerus... wie?“ „Eine zahlenmäßige oder prozentuelle Zugangsbeschränkung“, beeilte sich Bens Vater zu erklären. ,, Medizin, zum Beispiel, durften Juden überhaupt nicht studieren. Wir haben das Numerus nullus genannt.“ Major Berkin lehnte sich zurück, knöpfte den obersten Knopf seiner Uniformjacke auf, schüttelte den Kopf und sagte: „Die reaktionären Kräfte haben es immer verstanden, die Nationen gegeneinander aufzuhetzten. Eine Beschränkung hier. Eine Bevorzugung da. Schon ist Zwietracht gesät, der Neid entfacht. Das ist jetzt vorbei. Den Fleißigen und Begabten, ganz gleich welcher Abstammung, stehen nun alle Türen offen. Ihr Sohn kann in Minsk oder in Moskau studieren, jederzeit, zu den besten Bedingungen und ganz kostenlos. Daß er Jude ist, macht überhaupt nichts. Jegliche antisemitische Äußerung oder Tat wird bei uns 17