OCR
je „Ach, nennt mich doch Mojsche!“ sagte Berkin. „Auch Sie können Abraham zu mir sagen“, murmelte Bens Vater, trank ebenfalls, nachdem er dem Major zugeprostet hatte, sein Glas leer und lenkte das Gespräch auf die jüdischen Flüchtlinge. „Ein Unglück! Ein großes Unglück“, gab der Major zu. „Die Militärverwaltung tut, was sie kann. Aber wenn hier erst die Sowjetmacht etabliert ist, die neuen Strukturen da sind, der Stadtsowjet gewählt ist, dann wird die Flüchtlingsbetreuung in ordentliche Bahnen gelenkt. Ihr werdet schon sehen, es wird diesen Menschen bald so gut gehen, daß sie ihr früheres Leben und das Leid, das ihnen widerfahren ist, vergessen werden.“ „So?“ entgegnete Großvater. „Ich habe gehört, daß jüdische Flüchtlinge auch zurückgeschickt werden, wieder zu den Nazis. Was ist das für eine Politik?“ Nun beeilte sich die Großmutter zu versichern, daß ihr Mann offenbar nicht ganz im klaren darüber sei, was er da sage: ‚‚Plappert nur das nach, was irgendwer auf dem Mark gesagt, das er irgendwo aufgeschnappt hat. Ist ja auch nicht unsere Sache. Wir sind unpolitische Menschen, wollen nur in Frieden leben.“ „Heutzutage, liebe Frau“, meinte der Major, „ist alles politisch. Im Arbeiter- und Bauernstaat steht alles im Dienst der einen Sache. Zurückgeschickt werden im übrigen nur zwielichtige Elemente, Kriminelle, Saboteure, Feinde unserer Ordnung.“ Und Berkin erzählte, wie gut er sich in die Lage eines Flüchtlings hineinfühlen könne, nachdem er doch während des Bürgerkriegs selbst vor den Banden der Konterrevolutionäre — den „Weißen“ - flüchten hatte müssen: „Die Pogromschtschiki haben meiner Mutter mit einem Säbel den Schädel gespalten. Einfach so. Brak!“ Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und das Tischtuch verrutschte. „Mein Vater ist in der Blutlache gesessen, hat Mutters Kopf in Händen gehalten und hat gesungen. Schlofmejn Kind, schlof eijn, kein Kummer wird dir nischt mehr sejn. Den haben sie dann auch noch erwischt, den Vater. Und ich bin geflüchtet, zu Fuß durch die Sümpfe und Wälder, nach Osten, habe mich von Beeren und Kräutern ernährt. Später bin ich mit Budjonnys Reiterarmee zurückgekehrt und hab’s ihnen heimgezahlt, bin gewatet in ihrem Blut. Ich hab ja gewußt, wer’s gewesen war. In so einer kleinen Stadt kennt ja jeder jeden. Ihre Häuser habe ich niedergebrannt, ihre Frauen und Kinder in den Fluß getrieben und dann...“ Er stockte, merkte, wie seine Hände zitterten, mußte das Glas auf den Tisch stellen, lachte gezwungen, machte eine wegwerfende Handbewegung, schlug sich mit der Faust aufs Knie. „Vergangenheit!“ sagte er laut und räusperte sich. „Wer zu oft in die Vergangenheit blickt, den holt der Teufel und läßt ihn nie mehr los.“ Während die Großeltern betreten schwiegen, Vater von der Zukunft zu reden begann und Mutter dem Major wieder ein Stück Kuchen nachlegte, wurde Ben ein wenig übel, denn er mußte an den Säbelhieb und den gespaltenen Schädel denken, aus dem das Gehirn hervortrat. „Bei uns gibt es keine Pogrome, keine fliegenden Händler, keine Wunderrabis und Luftmenschen mehr“, meinte Berkin nach einer kurzen Pause. ‚Nur Werktätige. Vor kurzem war ich hier in eurem Städtchen auf dem Markt und sehe einen alten Juden, einen ganz armseligen, verhärmten, seine Waren feilbieten. Trödelkram. Eine Gipsbüste des österreichischen Kaisers Franz Josef unter anderem. Ich lache und frage: Na, Alter, wer soll dir das denn noch abkaufen? Wer interessiert sich heute noch für sowas? Für Franz Josef. In Zeiten wie diesen. Zeichnung wie auf den beiden vorhergehenden Seiten von Arkadij Ostromuchow, geb. 1965 in Moskau, künstlerische Ausbildung als Bühnenbildner, mehr als zehnjährige Tätigkeit an Theatern in Moskau und Österreich. Lebt seit 1989 als freischaffender Künstler in Wien. Stellte zuletzt im Gebäude der Postsparkasse in Wien zusammen mit E. Stöbe, A. Sanchez, L. Kaiser, Chr. Subik aus. Ach, sagen Sie das nicht, Herr Offizier, antwortet er mir. Jede Ware findet ihren Käufer, wenn der Verkäufer seinem Geschäft mit Liebe und Hingabe nachgeht. Da hab ich ihm den Franz Josef abgekauft. Nur so zum Spaß. Und weil er mir leid getan und ein wenig an meinen, Vater erinnert hat. Der hat mit ähnlichem Kram gehandelt. Sowas wird es nicht mehr geben. Diese Armut. Dieses graue Elend. Das ist vorbei.“ Und alle pflichteten ihm bei, daß es etwas derartiges nicht mehr geben werde, nicht mehr geben dürfe. Bens Vater sprach von den Zuständen im ehemaligen Polen, von der Arbeitslosigkeit, den Obdachlosen und dem Elend der Bauern und davon, daß er diesem Staat keine Träne nachweine. Und Major Berkin beteuerte, daß der Sowjetstaat gute Ärzte benötige, wobei er beiläufig den Genossen Stalin und seine Liebe für die Wissenschaft erwähnte, und daß sich Bens Vater überhaupt keine Sorgen zu machen brauche und daß auch Ben selbst einmal einen ganz ausgezeichneten Arzt abgeben werde im Dienste der werktätigen Massen und des sozialistischen Aufbaus. Und während Bens Vater noch viel von der Zukunft redete, wurde der Major, vielleicht weil er zuviel Alkohol 19