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RE en map Tannen a und der schlanken Silhouette des Turms in der rechten Ecke meines Rundhorizonts. Jeden Tag kann ich jetzt einen Blick auf den Steffel werfen, wann immer es mir paßt. Das durch ihn markierte Zentrum der Stadt, in der ich geboren wurde, zur Schule gegangen bin, von der ersten Liebe überrascht wurde, mein Studium abgeschlossen und Hochzeit gefeiert habe, wird jetzt immer da sein, nicht mehr durch Länder und Grenzen von mir getrennt! Ich darf im Alter zu mir selbst zurückkehren, sage ich mir. Und die Aussicht auf den Turm ist das Symbol dieses Geschenks des Schicksals. Warum kommt mir aber das Bild des Nazisportlers in die Quere, der am 12. März 1938 mit der Hakenkreuzfahne im Tornister auf den Turm geklettert ist? Der braune Klettermaxe hatte dann die Fahne am Turmkreuz befestigt, und da flatterte sie dann auch schon zur BegrüBung des Führers über der gerade ans Tausendjährige Reich angeschlossenen Ostmark. Das ist eine nicht ungefährliche, eindrucksvolle Turnergeste gewesen, die in zeitgenössischen Reportagen erwähnt wird. Der Blick auf den schon fünfzig Jahre fahnenbefreiten und ganz und gar österreichischen Stephansturm ist aber gerade eines der Motive gewesen, den Mietvertrag gerade für diese Wohnung so schnell und freudig zu unterzeichnen. Ist es das Alter, sind es die vom Umzug nach Wien ermüdeten Nerven, oder ist es eine besondere Wehleidigkeit, die sich gegen den Druck der Erinnerungsarbeit wehrt, oder ist es die Fiktion, durch Festhalten vergangener Angstbilder die Schrecken der Gegenwart zu bannen, welche gegen meinen Willen das Bild dieses von der Hakenkreuzfahne verunstalteten Turms hochkommen läßt? Will ich mich denn ewig mit Bildern dieser Art belasten und am Ende so lange weiterforschen, bis ich zuletzt auch noch den Familiennamen des Parteigenossen Namenlos, welcher damals die Fahne gehißt hat, herausgefunden habe? Ich sollte doch stark genug sein, der Gestalt dieses Parteigenossen mit homerischem Gelächter zu begegnen, um ihn dann als kleine Nebenfigur in den Sagenschatz meiner Heimatstadt versinken zu lassen. Was kann aus ihm schon werden, wie kann er bestehen neben der Unsterblichkeit von Donauweibchen und Lieben Augustin? Diesem winzigen braunen Floh sollte doch kein Platz in der Stadtmythologie zugewiesen werden! Zum Glück wird selbst das kleine Starhembergbankerl in der Türmerstube von St. Stephan, wo der Stadtkommandant während der Türkenbelagerung 1683 sehnsüchtig seinen Blick auf den Kahlenberg wandte, um das Auftauchen des Entsatzheeres zu erspähen, immer viel lebendiger und deutlicher in der Phantasie der Wiener Schulkinder haften als diese Turmerkletterung ... Ob es sich nun um die Rüpelszene einer grotesken Stephansturmbesteigung oder um wirklich ernste und tragische Begebenheiten handelt, die Obsession, sich immer wieder und noch einmal mit der Mörder- und Grotesk geschichte des Tausendjährigen Reiches zu beschäftigen, hat bei mir eine Dimension biblischen Ausmaßes gewonnen, die meiner Philemon-und-Baucis-Vision vom Glück des Alterns in der Geburtsstadt im Wege steht. Philemon, das wär ich selbst, und Baucis meine geliebte Geburtsstadt. So idyllisch habe ich mir das alles vorgestellt... ! Warum lasse ich es aber dann zu, daß mein schöner Traum durch diese Fixierung auf die braune Vergangenheit der Stadt gestört wird? Muß ich eingestehen, daß dieser Obsession, so lähmend und unerbittlich, nur durch Anwendung der höchsten Stufe religiöser Kasuistik Einhalt geboten werden könnte? Ich schrecke nicht davor zurück, von einer achten Todsünde zu sprechen, die begangen wird, sobald die Gegenwart völlig vom Diktat der Vergangenheit beherrscht und unter dem Druck des zwanghaften Erinnerns zerquetscht wird. Ich wage es, diese achte Todsünde neben die sieben Todsünden — wie Hoffart, Fraß und Völlerei, Geiz, Neid und Zorn im korrekten katholischen Katechismus - zu stellen, um wenigstens vor mir selbst mit dieser privattheologischen Hilfskonstruktion mein Vergehen anzuprangern. Habe ich dir übrigens schon erzählt, Jeremy, daß mir deine Schwester erst unlängst berichtet hat, wie sie sich schon als Kind vor der Masse der KZ- und Naziliteratur in meiner Londoner Bibliothek gefürchtet hat? Sie hätte zwar noch nicht genau gewußt, was in diesen Büchern beschrieben wird, aber sie hätte die Ausstrahlung des Bösen und des Schreckens, des Niederschmetternden und Grauenhaften gefühlt, ohne noch den Sinn der Buchtitel „Rassesieg in Wien“, „Deutsche Ostmark“ oder „Aus dem Ahnengau des Führers“ zu verstehen. Jetzt habe ich auch diesen Teil meiner Bibliothek von London nach Wien repatriiert, und im Arbeitszimmer mit der schönen Aussicht auf den Stephansdom stehen sie auf den Regalen. Ich frage mich aber ernsthaft, wie lange ich noch mit diesen Monumenten meiner Kindheit leben möchte, denn hier in Wien bedrückt mich ihre Zeugenschaft stärker als in London, weil sich die geographischen Schauplätze mit den Inhalten dieser Bücher viel enger decken als dort. Mit der fixen Idee, daß ich in Wien Auschwitz, wo der Bruder meines Vaters ermordet wurde, geographisch näher bin als in jedem der drei Orte - Cambridge und Northhampton, USA, und London — in denen ich in den letzten zweiunddreißig Jahren gelebt habe, beginne ich mich herumzuschlagen. Ebenso mit der Angst, daß diese geographische Nähe wie ein Störsender mein neues Leben in der Heimat beeinflussen und verunsichern könnte. Darüber möchte ich aber nicht jetzt, sondern später mit dir reden.