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Komme mit mir nach rückwärts und schaue mit mir aus dem Schlafzimmerfenster auf den blühenden Kastanienbaum im Hinterhof des gegenüberliegenden Hauses, du mußt dich mit mir ein wenig aus dem Fenster beugen, und den Blick über das Gerümpel und die rostenden Blechfässer, die über diesen Hinterhof zerstreut sind, erheben, um die Kastanie zu sehen, aber es ist der Mühe wert, denn dann wirst du bemerken, daß hier nicht nur ein blühender Baum steht, sondern zwei und rechts von diesen auch noch eine Linde. Ob ich nicht den Blick von der Terrasse unseres Londoner Hauses, der beim Frühstück auf die blühende Magnolie gefallen ist, vermisse, willst du wissen? Aufjene Magnolie, deren Stamm im Garten des Nachbarn steht, deren Äste aber über die Gartenmauer zu uns herüberreicht. Ob ich den Magnolienfrühlingsgruß in St. Johns Wood, fast dreißigmal ist er im März über die Gartenmauer gereicht worden, nicht nachweine? Natürlich geht mir die Londoner Magnbolie ab, lieber Jeremy. Aber würdest du in London bleiben wegen einer Magnolie, während die Sehnsucht nach Wien ungestillt bliebe? Vorige Woche habe ich meinem Freund Ivo von der Londoner Magnolie erzählt. Er frug mich, ob ich den Magnolienbaum vor dem Gebäude des Stadtgartenamtes, Ecke Stadtpark-Heumarkt, schon bemerkt hätte, er stünde jetzt in voller Blüte! Ohne den Hinweis Ivos wäre ich achtlos an der Wiener Magnolie vorübergegangen. Erst nach diesem Hinweis machte ich mir die Mühe, auf dem Weg zum Ring bei der Überquerung des Heumarktes meinen Blick nach rechts zu wenden, um diesen blühenden Baum in mich aufzunehmen. Die Entfernung ist nicht der Rede wert — fünf Minuten zu Fuß! Jetzt erst sehe ich nicht nur die private Londoner Magnolie, auf die mein Blick dreißig Jahre lang beim Frühstück gefallen ist, sondern auch die Wiener Magnolie vor dem Stadtgartenamt. Den Blick teile ich mit Wiener Fußgängern und Autofahrern, die den blühenden Baum ebenso freudig begrüßen wie ich. „Du kannst dir ja einen Klapptisch auf dem Gehsteig gegenüber dem Stadtgartenamt aufstellen“ , sagt Jeremy, „mit heißem Tee in der Thermosflasche! Dann wirst du auch in Wien mit Blick auf eine blühende Magnolie frühstücken können!“ Ich habe mich damit abgefunden, daß es in meinem Leben zwei Versionen gibt - eine Londoner und eine Wiener. Das gilt nicht nur für Magnolienbäume. Ich könnte auch ein philosophisches Traktat über 713 24 79, meine neue Wiener Telephonnummer, verfassen, und sie mit meiner ersten Wiener Telephonnummer vergleichen, um die Endlichkeit der Telephonnummern zu beweisen. Meine erste Telephonnummer in der Pötzleinsdorfer Wohnung A 11 9 79 habe noch als unendliche Ziffer erlebt, als pars pro toto aller Telephonnummern im Weltall. Ich wäre damals nicht auf die Idee gekommen, daß ich im späteren Leben auch noch andere Telephonnummern haben würde. Nein, diese Telephonnummer meiner Kindheit und Jugend, über die ich mir auch meine ersten Rendezvous ausmachte, konnte gar nicht anders lauten und wäre durch keine andere Nummer ersetzbar gewesen. A 11 9 79 war nicht nur telephonischer Mittelpunkt meiner damaligen Welt, sondern hatte auch wie diese Ewigkeitsanspruch, konnte weder umgestellt noch eingestellt werden, schloß in der Rufnummer, die außerdem mit A — wie Alpha — begann, den nicht begrenzbaren Ewigkeitsanspruch in sich ein, war wie der Mensch selbst in der Kindheit und Jugend scheinbar unsterblich. Die unzähligen Telefonnummern, die ich später benutzte, in Hotels und Flughäfen, in Mietwohnungen und Bureaus, ja selbst die Nummer im eigenen Haus in London und die meines Londoner Geschäftes, konnten alle nicht mehr diesen Ewigkeitsan24 spruch erfüllen. Die private Londoner Telephonnummer ist mir nach dreißigjähriger Benutzung natürlich in Fleisch und Blut übergegangen. 6243850 six two four three eight five o, aber ich habe sie niemals unter dem Blickwinkel eines philosophischen Erkenntnisdranges benützt. Mit den Wiener Telephonnummern verhält es sich anders, sie haben eine Bedeutung, die über die Wählbarkeit der Nummern hinausgeht, die sie weit über ihre fernmeldetechnische Verfügbarkeit erhebt. Dem Unendlichkeitsanspruch der ersten Wiener Nummer A 11 9 79 steht die Endlichkeit der vielleicht letzten gegenüber, 713 24 79. Diese Nummer besitze ich kaum ein Jahr, aber ich weiß bereits, daß ihre Tage gezählt sind, denn mit Zweiundsechzig werde ich sie kaum noch wie die Londoner Nummer dreißig Jahre lang benützen, ge- | schweige denn, wie die erste Wiener Nummer, unter der herrlichsten aller Illusionen, nämlich jener der Unendlichkeit, die gleich- | zeitig Unsterblichkeit verheißt, in Anspruch nehmen. „Wenn ich mir das so anhöre“, sagt Jeremy, ‚frage ich mich, warum du nicht Telephonseelsorger geworden bist?“ Biographische Anmerkung Am 18. August 1995 bin ich aus London nach Österreich zurückgekehrt. Von 1963 bis 1995, also zweiunddreißig Jahre lang, ist London mein ständiger Wohnort gewesen. In London wurden meine beiden Romane „Wohnungen“ und „Möblierte Zimmer“ verfaßt, und in London habe ich mein Berufsleben als Kunsthänd- | ler (zuerst bei Marlborough Fine Art, dann ab 1972 mit der eigenen Galerie Fischer Fine Art) geführt. Das komplizierte Emigrationsschicksal der Familie machte zwar meinen Vater, ehemals Buchhändler und Verleger in Wien (Buchhandlung Frick am Graben), nach dem Anschluß 1938 zum Emigranten, aber meine Mutter und mich selbst schon 1940 (!) zum ,,Remigranten“, als wir aus der kurzen Emigration nach Jugoslawien von Agram nach Wien zurückkehren mußten, während mein Vater knapp vor Kriegsausbruch nach England entkommen konnte. Für. mich, den sogenannten „Jüdischen Mischling ersten Grades“ mit dem Geburtsjahr 1933, markierte das Jahr 1945 zwar das glückliche Ende des Nazispuks, aber keine Familienzusammenführung. Die Ehe der Eltern hatte das Tausendjährige Reich nicht überlebt, der „‚britische“ Vater blieb im fernen England, bei meiner Mutter wuchs ich in der Geburtsstadt auf, besuchte hier Schule und Universität, an der ich 1961 promovierte. Seit 1962 lebte ich in der angelsächsischen Welt, zwei kurze, schöne Jahre an der Ostküste der USA, und dann eben in London, aber die deutsche Sprache blieb meine schöpferische, während die englische Sprache meine Geschäftssprache und zum großen Teil auch meine Umgangssprache geworden war. 1992 habe ich mich aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen und habe den Entschluß gefaßt, meine schöpferische Sprache mit der Sprache meiner Umgebung zur Deckung zu bringen. Diese ,,Sprachentscheidung“ ist eines der Motive meiner Rückkehr gewesen, aber die Probleme sind deshalb nicht geringer geworden. Obwohl die Bezeichnung ‚„Emigrant“ im klassischen Sinn auf mich nicht zutrifft, denn ich bin 1963 freiwillig nach London übersiedelt, habe ich über meinen Vater alle Aspekte des Emigrantenschicksals und der Emigrantenwelt mitbekommen und damit auch die Problematik der sogenannten dritten Generation (nach dem Holocaust), von der dieser Text handelt. Wolfgang G. Fischer, Wien, 23. April 1998