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Erwin Chvojka Als Theodor Kramer am 26. September 1957, gebrochen von den überaus langen Jahren seines Exils, heimwärts fand, blieb ihm nur mehr ein halbes Jahr zu leben. In dieser Zeit verfaßte er nur fünf Gedichte; und jedes von ihnen enthält das Wort ‚‚verstört“. Nichts macht die Peripetie des lebenslang in ihm wirkenden Triebes, wie ein anderer Lynkeus alles Geschaute zum Wort werden zu lassen, so deutlich wie dieses bedrückende Schweigen. Nach 18 langen Jahren des Exils endlich heimgekehrt, fand er die Heimat nicht mehr, wie sie in seinen Träumen und in seinen Gedichten lebte. Und die Gedichte, die er fünf Jahrzehnte hindurch nahezu Tag für Tag geschaffen hatte, deren Schaffen ihm Lebensmut gab und Lebenskraft kostete, waren, unpubliziert und unpublizierbar, zu einer Menge von fast 12.000 Stück angewachsen, die ihn erschreckte. Noch gezeichnet von den Zusammenbrüchen, in die ihn die Verlorenheit seines Lebens in der kleinen, abseits der Welt gelegenen englischen Stadt gestürzt hatte, befreit von der geliebten Fronarbeit in der Bibliothek, eher heimgebracht als heimgekehrt, trotz aller Bemühungen alter und neuer Freunde sich selbst überlassen und auf sich zurückgeworfen, ohne Beschäftigung allen Ängsten, die ihn zeitlebens beherrschten, preisgegeben, mutlos in eine Zukunft voll imaginärer Schrecken blickend, erfüllte ihn nur die Sorge um den Fortbestand seines Werkes. Wie sehr seine Gedanken nur mehr um dieses und um dessen Sicherung und Rettung kreisten, soll die Wiedergabe eines einmaligen Zeugnisses, des Typoskripts „Zur Stützung des Gedächtnisses“, im Anschluß an diese Darstellung belegen.. Das Wiedersehen mit der Heimat hatte ihn tief erschreckt. Ihr Bild, das ihm in der endlosen Zeit des Exils ,,zum Weinen klar“ vor Augen gestanden war, erwies sich in der veränderten Wirklichkeit als Trugbild. Die Zeit war über seine Vorstellungen hinweg gegangen. „Erst in der Heimatbin ich ewig fremd“ istseine Klage. Das Stadtbild hatte sich verändert, die Tschochs waren Espressos gewichen, und daß „der Ringturm kantig sich zum Himmel stemmt“, tadelt er nicht nur in dem Gedicht „Wiedersehen mit der Heimat“ , dessen Trostlosigkeit der vom Titel geweckten Erwartung entgegensteht, sondern auch in zahlreichen Gesprächen und Briefen. Letztere, einlangende wie abgesandte, sind zum Unterschied von der exorbitanten Masse seiner von England aus geführten Korrespondenz in einem schmalen Ordner erhalten. Hatte er im Exil, bedingt durch den häufigen, immer wieder notwendig gewordenen Wohnungswechsel den größten Teil wie Ballast abgeworfen und nur wenige Serien, wie den Briefwechsel mit Michael Guttenbrunner', und einzelne Stücke, ihren Wert damit bezeugend, aufbewahrt, so sollte nun ein neuer Anfang gemacht werden. Naturgemäß weniger rückhaltlos und ehrlich als Tagebücher — Kramer hat niemals welche geführt — geben sie doch, bedingt, für die knapp mehr als sechs Monate nach seiner Rückkehr Einblick in seine Überlegungen und Gedanken. Die erhaltenen Taschenkalender aus den Jahren 1957 und 1958? ergänzen diese durch die Darbietung eines Zeitgerüstes und eines Beziehungsgeflechtes. Doch vorerst war Kramer stumm. Nach dem Festhalten seiner Ankunft in Wien am 26. September 1957 notiert er erst am 16. Oktober im Kalender: ,,erst nun Verabredungen eingetragen“. Briefe schreibt er erst ab 1. November. (Am 1. November an Hilde Spiel: „Bis heute habe ich keine Korrespondenzen beantwortet, aber nun sind hier drei Feiertage ..." Und am 10. November an Anny Friedmann: „Bis Allerheiligen schrieb ich keine Briefe und ließ die Dinge an mich herantreten, nun muß ich ihnen nachgehen ...“) Die Lücke demonstriert das Ausmaß des durch die Heimkehr ausgelösten Schocks, das gewaltiger gewesen sein muß als das derzweimaligen Verbringung in Sanatorien (,,Holloway Sanatorium Virginia Water“ und anschlieBend ,,Sanatorium Rushward“ vom 25. Mai bis 18. Juli 1957 und nochmals „‚Holloway Sanatorium“ vom 11. bis 20. September 1957), denn diese beiden Lebensabschnitte sind bis in die einzelnen „Tratments“ und durch Eintragungen über eintreffende und ausgehende Briefe und über die wiederholten Besuche von Hilde Spiel dokumentiert. Am 26. September, dem Tag der Heimkehr, stehen die Eintragungen gehäuft: zuerst in Tintenschrift (was bei Kramer immer die Wichtigkeit einer Notiz betonen soll ) „Ankunft Pension Solderer“ , dann mit Bleistift ,, Wien", einmal mit Bleistift und einmal mit Tinte unterstrichen, und zuletzt, noch einmal mit Tinte geschrieben: „Ankunft“. Über die Ankunft Kramers informiert ein Bericht von Dr. Fritz L Brassloff *, der Kramers Londoner Intimus war und den Flug begleitete. In beiden Kalendern aus dieser Zeit finden sich neben dieser Notiz nur noch zwei andere in Tintenschrift, die ebenso bestimmend fiir sein Leben sind: am 8. Marz 1958: ,, Abschiedsbrief von Guttenbrunner erhalten“, und am 27. Marz 1958: ,, BARTENSTEINGASSE 7“, die Adresse des Wohnungsamtes, wo ihm eine Wohnung in Favoriten zugeteilt werden soll. Das nun folgende Schweigen, die wochenlang währende Unterlassung von Kontakten zur Außenwelt und, wenn man das Fehlen von Eintragungen in den Kalender so sehen will, zu sich selbst, ist der offenkundige Ausdruck eines Zustandes, den Kramer selbst noch am 1. Januar 1958 in einem Brief an Grete Moon richtig beschreibt: „Ich bin nicht geisteskrank, wohl aber gemiitskrank.“ Im ganzen ergeben die Kalendereintragungen in ihrer Relation zueinander eine zutreffende Vorstellung von den Wiener Beziehungen Kramers. Weitaus am häufigsten (67 mal, davon drei mal gestrichen, d.h. daß die Besuche nicht stattfanden) findet sich der Name von Dr. Brix, des Nervenarztes, den ihm Dr. Brassloff besorgt hatte und der ihn weit über das beruflich Zumutbare zur Seite steht. Dann folgen Chvojka 18 mal und Guttenbrunner 16 mal (davon 6 mal gestrichen): mit beiden „feilt“ er an seinen Gedichten und berichtet darüber in seinen Korrespondenzen, unter anderem in einem Brief an Dr. Brassloff vom 1. Januar 1958: „... einmal arbeite ich wenig mit Chvojka, und einmal mit Guttenbrunner ...“. 11 mal besücht ihn (Gräfin) Alexandra Czernin, mit der ihn Guttenbrunner bekannt gemacht hat, und 9 mal Hilde Sagel, die ihm von Grete Oplatek-Moon geschickt worden ist, 8 mal seine Dichterfreundin Erika Mitterer. Je zweimal besuchen ihn Frau Dr. Pallin und Josef Posival. Nur einmal finden sich als Besucher eingetragen: Bernusch, Csokor, Fink, Fitzbauer, Flesch, Frisch, Muschik, Palay, Slowincik, Spiel, Steinitz und Zenker. 4 mal trifft Kramer den damaligen Direktor der Stadtbibliothek Dr. Mitringer, teils in dessen Amtsräumen undteils in seinem Zimmer in der Schweizer Pension Solderer. Auf den ersten Blick ein eindrucksvolles Netz von Beziehungen Kramers; aufgeteilt auf die 190 Tage seines letzten Aufenthaltes in Wien doch ein wenig dünn, umsomehr als in ihm einige anderweitig belegte, oft wesentliche Begegnungen und Ereignisse fehlen. Das mag im ersten Augenblick überraschen, doch bei einer Überprüfung der Eintragungen zeigt es sich, daß Kramer sich im allgemeinen auf die Vermerke von empfangenen Besuchen beschränkt. Und zum Unterschied von der früher von ihm geübten Praxis trägter den Ein-und Ausgang von Briefen überhaupt nicht mehr ein. Nicht eingetragen, aber, und damit aus dem Kalender nicht erschließbar, ist etwa auch die Fahrt Kramers in seinen Heimatort Niederhollabrunn, die der Verfasser mit ihm und mit Michael Gutenbrunner am 27. Oktober 1957 unternommen hat. Kramer bezieht sich auf sie am 1. November in einem Brief an den Verfasser mit den Worten: „Der Besuch in Niederhollabrunn hat mich sehr erschüttert. Hoffentlich hab ich es mir nicht zu sehr anmerken lassen.“ Einen Bericht über diese Fahrt enthält ein Beitrag des Verfassers in dem von Senta Ziegler herausgegebenen Band „Weinviertel“ *. Wann die von Kramer des öfteren in Briefen erwähnte Fahrt mit Freunden nach Rust stattgefunden hat, istim Kalender ebenfalls nicht festgehalten und läßt sich nicht mehr eruieren. 33