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Nicht eingetragen sind auch Kramers zahlreiche Bemühungen um die Zuweisung einer Wohnung in fürsorglicher Begleitung seines Arztes Dr. Brix, sowie Besuche Kramers bei Grete Gillinger und in der Wohnung des Verfassers, die am gleichen Tag stattgefunden haben. Dies muß vor dem 22. Oktober 1957 gewesen sein, da sich Grete Gillinger, langjährige Freundin Kramers aus der Zeit vor 1938 und Kontaktperson zu seiner Mutter vor deren Verbringung in das Konzentrationslager Theresienstadt, mit einem auf diesen Tag datierten Brief von Kramer wegen seines ungehörigen Verhaltens lossagt. Desgleichen finden sich für zwei in Briefen an Dr. Brasslofferwähnte wichtige „Ausgänge“ Kramers im Kalender keine Spuren: für den Besuch der „Buchwoche“ am 11. November (Brief vom gleichen Tag) und für das Besprechen eines Tonbandes für die Stadtbibliothek am 14. November (Brief vom 15. November). Aber auch die Eintragung eines von Kramer immer wieder in seinen Briefen erwähnten Besuches in seinem Pensionszimmer fehlt überraschenderweise im Kalender, nämlich die des Komponisten Peter Zwetkoff in Begleitung der Tochter Carl Zuckmayers; dieser Besuch muß vor dem 9. November 1957 stattgefunden haben, da er in einem auf diesen Tag datierten Brief Kramers an Erich Fitzbauer erwähnt wird. Anders als die Kalender der Jahre 1940 und 1941 enthalten die der Jahre 1957 und 1958 keine von Kramer eingetragenen Adressen außer der Berufsadresse des behandelnden Arztes Dr. Brix unter dem Eigentümervermerk auf der Stirnseite des Büchleins für 1958 und weiters auf der grauen Schutzseite am Ende dieses Bandes die Adressen der Polizeidirektion Wien (Fremdenpolizeiliches Büro), die der Stadtbibliothek (Dr. Mitringer) und die eines sonst unerwähnten „‚Vischer“ in der Wiener Kolingasse. Dagegen beginnt Kramer am 4. November 1957 mit der Anlage eines kleinen alphabetisch geordneten Büchleins (Brief an Brassloff vom 2. November: ,,Montag [das ist der 4.11.] will ich mir ein Adreßbuch anlegen.“), das 40 Adressen enthält — bis auf vier alle in Wien gelegen - und damit den Umkreis seiner erneuerten oder neugewonnenen Wiener Beziehungen absteckt.’ Weist schon das Zusammenstellen von Adressen auf ein Wiedererwachen seines Interesses an seiner Umwelt hin, so wird diese Wende durch die Aufnahme einer Tätigkeit bestätigt, die schon im Exil neben dem täglichen zwanghaften Schaffensdrang Mittelpunkt und Halt seines einsamen Lebens war: er beginnt mit dem Schreiben von Briefen. Die Adressen, die ihm zum Teil entfallen waren, besorgt er sich bei seinen Wiener Kontaktleuten, vor allem bei Erich Fitzbauer: so die von Regina Peregrin (Marianne von der Vring), Ernst Waldinger und Harry Zohn. Von Harry Zohn erbittet er sich die von Anna Krommer, und Hilde Spiel schreibt er via Brassloff. Diese in seinen letzten fünf Lebensmonaten abgefaßten Briefe Kramers machen über alle aus aus den Kalendern zu gewinnenden Ord34 nungssystemie hinaus etwas sichtbar, was sonst nur aus Tagebüchern zu ersehen ist: seine Gedanken, seine Gefühle, seine Stimmungen, seine Ängste, seine Ausweglosigkeit und seine Verzweiflung. So schreibt er an Dr. Brassloff am 9. November 1957: „Ich kämpfe nach wie vor in den Morgenstunden um mein Leben.“, Am 25, Dezember 1957: ,,Die frühen Morgenstunden sind ungeheuerlich.“ Und am 27. Februar 1958: „Frau Solderer ist gut, doch Sie haben recht, daß ich mich zu sehr an sie gewöhne.“ Ihn ängstigt die bevorstehende Änderung seiner unmittelbaren Lebensumstände, wenn er aus dem „Schutz“ der Fremdenpension entlassen werden soll. Fast zwei Jahrzehnte lang an die zwiespältige, fürsorgliche und einengende Nähe der englischen „landladies“ gewöhnt, beklagt er deren Fehlen in der Wiener Umwelt, ohne sich daran zu erinnern, daß es auch hier eine entsprechende Einrichtung, die Untermiete, gibt, deren er sich selbst jahrzehntelang bedient hatte. Doch selbstverständlich will ihn die Republik nicht in eine derartige Abhängigkeit zwingen, sondern in den freien Gebrauch eines eigenen Heims, einer Wohnung, entlassen. Doch er ist dieser Freiheit ungewohnt wie ein Wesen, das jahrelang in einem beengendem, doch schützenden Käfig gelebt hat. Die Aussicht, allein leben zu dürfen — zu müssen -, ist für ihn Ursache weiteren Schreckens. Hier istes an der Zeit, einmal über die Rolle der Gemeinde Wien, die eine solche Wohnung zu Verfügung stellen soll, zu sprechen. Mit ermüdender Regelmäßigkeit füllen sich die Zeilen der Kalender und der Briefe Kramers mit Zeugnissen seiner Erwartungen, Befürchtungen und Enttäuschungen, war doch sein Aufenthalt in der Pension Solderer vom Unterrichtsministerium nur als Zwischenlösung gedacht, bis er von der Gemeinde Wien eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekommen würde. Bei seiner ersten Vorsprache im Wohnungsamt war er, was er auch im Kalender festhielt, auf den Gemeinderat Hubert Pfoch getroffen, der ihm, überrascht, ihn dort zu sehen, (wie Kramer später dem Verfasser erzählte) versicherte, die Wohnbaugenossenschaft ‚Junge Generation”, der Pfoch damals vorstand, hätte beschlossen, ihren nächsten Bau nach ihm zu benennen, Sichtlich wäre eine solche Benennung nach einem Abwesenden leichter gewesen als die Beschaffung einer Wohnung für den Gegenwärtigen. Woche um Woche verging, Mal um Mal wurde Arztes Dr. Brix einfand, vertröstet. Schließlich stellte ihm, der infolge seiner eingeschränkten Beweglichkeit auf eine Nähe zur Inneren Stadt und ihren Bibliotheken Wert legte, ein Amtsrat eine Wohnung in einem im Bau befindlichen Haus im 4. Bezirk in der Favoritenstraße in der Nähe der Theresianumgasse in Aussicht. Weitere Wochen verstrichen, das Ministerium zahlte, und der Bau bei der Theresianumgasse war schon fast zur Gänze „besiedelt“ ‚doch Kramer war keine Wohnung darin zugewiesen worden. Dr. Brix. der einen gewissen Einfluß innerhalb der Sozialistischen Partei besaß, ging der Sache nach und mußte feststellen, daß der Akt Kramers nach guter alter österreichischer Bürokratensitte immer wieder auf den untersten Platz gelegt wurde. Ursache dieser Übung war, wie sich herausstellte, ein Eingreifen des damaligen Chefredakteurs der „Arbeiter-Zeitung“ , Oscar Pollak, der Kramer als einen der Förderung unwürdigen „Kommunisten“ denunzierte, weil dieser im englischen Exil im Bestreben, alle Gelegenheiten zu einer Beziehung mit anderen Emigranten auszunützen, sich auch dem | kommunistisch bestimmten Free Austrian Movement nicht verschlossen hatte. Als es Dr. Brix dann gelungen war, diese Blockierung zu lésea, war die Chance, im Bau bei der Theresianume. | gasse unterzukommen, bereits vertan. aff So mußte der Akt seinen Lauf neu beginnen; um schließlich mit der Zuweisung einer Wohe' nung im damals entlegenen Favoriten — die: U-Bahn war noch nicht gebaut — ein Ende za. finden. Doch es war ein Ende anderer Art. Mi?’ der endgültigen Zuweisung der Wohnung wag‘ Theodor Kramer am Ziel angelangt. Jedoch die‘ Erschütterung, die das Gefühl, wieder ein mehr an den Rand gedrängt worden zu sein, b ihm ausgelöst hat, hat diesem Wort eine ande finale Bedeutung gegeben. Fir den 28. Marz ist in Kramers Kalende. eingetragen: „8-12 Bartensteingasse Zimmeg 309° und - gestrichen - „ca 4 Wieland’ Schmad” , für den 29, März , wm [vormittag } Hin” (Hab-Nawen-Klınik ?), über d On März läuft, ebenso wie über den 6. und 7 AR, ; ein Stnch. in der Spalie für den 1. April steh 6 Chwogha?” und in der für den 2.: ,, Tappeiner” (Hath Janik Kramers). Aber die Vorsprache am 28. Marz findet nicht statt. An diesem Tag bit Kramer einen Schlaganfall erlitten. ; Von hier an kann auf keine Aufzeichnungen Kramers mehr zurückgegriffen werden. Der. ten und wird dies, ungekiinstelt, in der IchForm tun: Eben im Begriff, das Haus für den nur einmal! im Halbjahr stattfinden Elternsprechtag der Schule zu verlassen, erhalte ich gegen Mittag des 28. März einen Anruf der Pensionswirtin, | Frau Solderer, die mir entsetzt mitteilt: „Herr i Kramer ist wahnsinnig geworden. Er kriecht | brüllend wie ein Tier auf dem Boden. Bringen Sie ihn weg, ich kann keinen Arzt erreichen.“ Tatsächlich hatte Kramer einen Schlaganfall erlitten, der ihn halbseitig lähmte. Da mir bekannt war, daß Dr. Brix Wien zu einem vorösterlichen Urlaub verlassen hatte, | setzte ich mich mit Kramers Jugendfreund Dr. Otto Zenker und mit Erika Mitterer, die ihn sehr schätzte, in Verbindung. Aber Dr. Zenker, Leiter des Antiquariats der Buchhandlung Deuticke, konnte, zur Mittagszeit allein im Geschäft anwesend, dieses nicht verlassen, und auch Erika Mitterer war unabkömmlich. Beide, mit dem hypochondrischen Wesen Kramers vertraut, unterschätzten die Lage, aber immerhin konnte Erika Mitterer Kramer über die Verbindung mit einem ihr bekannten Urologen am Nachmittag ein Bett im Wilhelminenspital verschaffen.