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Stefan Keller

Über Gerda Rodel-Neuwirth

Gerda Rodel-Neuwirth, in Wien geborene So¬
zialistin, Journalistin und Jüdin, ist 83jährig in
Arbon gestorben.

Wenige Tage nach Gerda Rodel-Neuwirths
Tod in Arbon berichtete eine thurgauische Zei¬
tung, daß in den dortigen Alters- und Pflegehei¬
men neuerdings jeder pflegerische Handgriff
gesondert berechnet werden müsse: Ab 1. Ja¬
nuar 1998 seien die Alten in den Arboner Hei¬
men alle zwei Monate vom Personal auf ihre
Pflegebedürftigkeit hin zu begutachten und als
Kostenfaktoren neu zu taxieren, wobei ein spc¬
zielles, vom Thurgauer Regierungsrat in der
Weihnachtszeit beschlossenes „Bewohner¬
und Bewohnerinnen-Einstufungs- und Ab¬
rechnungssystem (BESA)“ zum Einsatz kom¬
me. Aufgrund der jeweiligen Einstufung, so
entnimmt man der Zeitung, wird den Patientin¬
nen und Patienten in den nachfolgenden zwei
Monaten ihre Rechnung präsentiert. Wer zum
Beispiel häufig pinkelt im hohen Alter und
nicht mehr ganz alleine pinkeln kann, wird sich
in den Arboner Pflegeheimen auf seine letzten
Jahre hin das häufige Pinkeln jetzt wohl ver¬
kneifen; noch günstiger wäre es, sofort zu ster¬
ben. Wer das Frühstücksbrot nicht mehr selber
schneiden oder bestreichen kann, weil die Hän¬
de zittern nach einem langen Arbeitsleben in
der Fabrik, oder wer sich den gebuckelten Rük¬
ken zu oft einreiben läßt, wer die Ohrenstäb¬
chen nicht mehr akkurat genug ins halbtaube

Ohrloch einführt, wird künftig innerhalb kürze¬
ster Frist kostenmäßig hochgestuft und einem
neuen Pflegetarif unterworfen.

Ich stelle mir Gerda Rodel vor, wie sie wegen
dieser Verordnung tobt. Wie sie schimpft und
zetert, wie sie nach einer List sucht, nach einer
subversiven Strategie, um die entwürdigenden
Maßnahmen anzuprangern und die verantwon¬
lichen Politiker zu blamieren. Ich stelle mir vor,
wie sie uns ständig zum Lachen bringt mit ihren
Bemerkungen und wie sie auch selber lacht, da
für sie jeder Widerstand ohne Ironie, ohne
Selbstironie, undenkbar gewesen ist.

Gerda Rodel-Neuwirth, 83jährig, Joumalistin
in Arbon, Sozialistin und — wie sie erst in
jüngster Zeit hervorhob - Jüdin, starb nucht ın
einem Pflegeheim, dafür hatte sie gesorgt. Sac
war noch in Paris, eine Woche zuvor, und iss
im Taxi das Bellevillequartier abgefahren ums
die Gegend um die Buttes Chaumont, wo tac
im Exil gelebt hatte als Wiener Kommunissm
mit tschechischem Paß, als Mitarbeitern der
, Nouvelles d’ Autriche“ und spiiter der .. New
en Weltbiihne“, als medizinische Masseurks,
als ,,femme de ménage“, bevor die Nazis auch
Paris eroberten. Sie fuhr über die Champs Ely
sées und humpelte zu FuB von der Républaqur
bis zum Hötel de Ville, zusammen mit ihrer
besten Freundin, die ihr das ermöglicht hat.
Gerda Rodel-Neuwirth starb in ihrer eigenes

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hellen Wohnung, in der während der letzten
Tage Freundinnen und Freunde eintrafen, sich
unweit vom Bett an den Eßtisch setzten und
dort redeten und lachten und hilflos rauchten,
auch noch, als Gerda selber die letzte Select-Zi¬
garette schon geraucht hatte, als sie zum letzten
Mal eingeschlafen war und während 35 Stun¬
den durchschlief, bis schließlich der Atem de¬
finitiv aussetzte. Sie starb, falls man das wissen
kann, einen würdigen Tod; viele von uns wer¬
den wohl einmal schlechter sterben. Man legte
ihr keine Windeln an, ihre Freundinnen verhin¬
derten es, man behandelte sie nicht wie ein
Kleinkind, man benahm sich ihr gegenüber bis
zum Schluß ungefähr so, als wäre sie noch
wach oder bei Bewußtsein (und man war über¬
zeugt, daß siees merkte). Es gab keine größeren
Tbergriffe. Man verzichtete am Totenbett auf
alle lebensverlängernden Maßnahmen, aber sie
erhielt genügend Morphium, das hatte sie ge¬
wünscht und gefordert, so daß sie nach einver¬
nehmlicher Meinung der anwesenden Freun¬
dinnen und Freunde kaum mehr Schmerzen
spürte. Ein Wiener Arzt, der in Salzburg Urlaub
machte, bot sogar telefonisch an, jederzeit mit
dem Flugzeug herzukommen, falls sie ihn brau¬
che. Gerda starb eine Woche vor dem proviso¬
nsch vereinbarten Termin mit einem Sterbehel¬
fer von EXIT (welcher unabkömmlich in den
Skiferien weilte), denn schon Ende Oktober, an
ihrem letzten Geburtstag, hatte sie uns verkün- /
det. daß sic einen weiteren Winter mit ihrer
fürtgemchrittenen Osteoporose nicht mehr erle- °
ten eolle In Paris war eine Art Hexenschu8
dategekommen.

Nad dom Plänen der Eidgenössischen Frem¬
dempotkacs m Bern und der Polizeidirektion des
Kasam Zara wäre Gerda Rodel-Neuwirth
wm woe M6 Jahren umgebracht worden. Sie

kur „ülegal"?", höre ich sie rufen: „Alle
Flüchklinge sind „illegal"!“ -im Gefängnis auf |
diem Zürcher Kasernenareal; dort sperrt man
auch heute wieder Flüchtlinge ein.

Nach dem Fall von Paris war die 26jährige
Emigrantin, deren Verlobter im Spanischen
Bürgerkrieg getötet worden war, weiter nach ?
Südfrankreich geflohen, in die Gegend zwi¬
schen Albi und Toulouse, wo sie in der Nähe |
des Städtchens Grisolles auf einem verlassenen
Bauernhof unterkam. Von Südfrankreich aus
hatte sie im Herbst 1940 einen Weg in die
Schweiz ausgekundschaftet, im Auftrag der |
Kommunistischen Partei, zu der sie in Wien aus
der Sozialdemokratischen Arbeiter-Jugend
übergetreten war (vor dem Arbeiteraufstand
1934) und der sie treu blieb, trotz Hitler-Stalin¬
Pakt, bis nach dem Krieg.

Sie war mit zehn Dollar in der Tasche über den
Col de Balmes ins Wallis gelangt, dies glückte
ihr schon beim zweiten Versuch, weil eine
Walliser Bauernfamilie sie aufnahm und ihr
den Weg zeigte und sie nicht verriet. Gerda
lebte ein Jahr im Zürcher Untergrund, von Ge¬
nossinnen, Genossen, anständigen Menschen
beherbergt und durchgefüttert; sie wurde ver¬
haftet, und man präsentierte ihr am 6. Novem¬
ber 1941, mitten im Krieg, eine Verfügung,