Als der junge Historiker Peter Schwarz noch
als Diplomand im Jahr 1992 daran ging, das
Schicksal der jüdischen Bevölkerung seiner
Geburtsstadt”Tulln in Niederösterreich auf¬
zuarbeiten, ersuchte er einen alten Lokalhi¬
storiker um sachdienliche Hinweise. Dieser
antwortete kurz und jovial: „Ich wünsche
Ihnen viel Glück, aber sie werden da nichts
finden.“
Dieses Vorurteil wird durch das vorliegende
Buch eindrucksvoll widerlegt, denn mit un¬
geheurer Energie und Akribie durchkämmte
Peter Schwarz Orts-, Bezirks-, und Landesar¬
chive, die Lokalpresse sowie Polizei-, Ge¬
richts-, und Staatsarchiv in Wien. Zentrale
Anlaufstelle war naturgemäß auch das Doku¬
mentationsarchiv des österreichischen Wi¬
derstandes, dessen Mitarbeiter Peter Schwarz
seit 1995 ist.
Interne NS-Akten waren von den Tätern kurz
vor Kriegsende vernichtet worden, andere
Akten sind nach wie vor gesperrt. Zeitzeugen
fanden sich so gut wie keine mehr. Wie Si¬
mon Wiesenthal im Klappentext treffend be¬
merkt, sind „‚die Opfer nicht namenlos, sind
keine Nummer einer Statistik, es sind Men¬
schen wie du und ich, Nachbarn-, Schul- oder
Berufskollegen und Spielkameraden“. Hier¬
in liegt das Besondere dieser „Lokalchro¬
nik“.
Überblicksartig wird die Geschichte der jüdi¬
schen Gemeinde Tullns und des dortigen An¬
tisemitismus vom Mittelalter bis 1938 nach¬
gezeichnet. War Tulln vor dem „Anschluß“
noch eine Hochburg der Vaterländischen
Front, so waren bei der Siegesfeier der Nazis
am 11. März bereits 2.000 Menschen auf der
Straße. Der Titel des Buches, „Tulln ist ju¬
denrein“, ist einem Transparent entnommen,
das schon 1940 den Bahnhof der Kleinstadt
„zierte“. Geändert hat sich daran bis heute
nichts, dies die traurige Bilanz.
Mit den drei „Hammerschlägen“ aus Gustav
Mahlers 6. Symphonie wird allegorisch die
Radikalisierung der NS-Judenpolitik von
Verfolgung zu Vertreibung und Vernichtung
verglichen. Jede der drei Stufen erfährt mi¬
nutiöse Aufarbeitung unter Zuhilfenahme
von Tabellen und Statistiken. Besonderes
Augenmerk ist auch auf den abschließenden
Essay zu richten, der sich der Kontinuität des
Unrechts nach 1945 zuwendet, den weiter¬
hin grassierenden Antisemitismus geißelt,
und auf die überaus mangelhafte Bereit¬
schaft der Landes- und Bundesregierung
verweist, auch nur im Ansatz erlittenes Un¬
recht ,,wiedergutzumachen“. (Zitat von
Leopold Figl im November 1945: „Es war
für Emigranten sicherlich bequemer, in ih¬
ren Clubsesseln zu sitzen, als für Österreich
zu leiden.“) Die lokalen Nazigrößen und ein
Arisierungs-Anwalt kamen straffrei davon.
Einzig der Tullner Siegfried Seidl, seines
Zeichens Kommandant des Lagers There¬
sienstadt, wurde hingerichtet.
Das Buch ist mit zahlreichen Fotos von Op¬
fern und Tätern, von „arisiertem“ Eigentum
sowie zahlreichen Ortsansichten versehen.
Absolut schauerlich ist das Titelbild, eine
zeitgenössische Postkarte mit Hauptstraße,
Kirche und Donau-Blick, doch statt der Son¬
ne geht am Horizont das Hakenkreuz auf.
Eine ähnliches Motiv findet sich auch im
Buch, diesmal mit idyllisch-kitschiger Au¬
landschaft im Vordergrund.
Marcus Patka
Peter Schwarz: Tulln ist judenrein! Die Ge¬
schichte der Tullner Juden und ihr Schicksal
von 1938 bis 1945: Verfolgung - Vertreibung
— Vernichtung. Wien: Löcker Verlag 1997,
376 S., 60 Abb. OS 398,-/DM 55,-/SFr 55,-.
Hermynia Zur Mühlen - Die
Biographie einer Vertriebenen
„Auf Veranstaltungen des Internationalen
PEN konnte man zuweilen eine Dame beob¬
achten, die die Aufmerksamkeit der anderen
Besucher in besonderem Maße auf sich zog...
Ihrem Äußeren nach hätte man sie für eine
Italienerin oder Südfranzösin halten mögen.
In Wirklichkeit war sie eine aus Deutschland
und Österreich vertriebene Adlige“, schrieb
Wilhelm Sternfeld 1943 in London über die
antifaschistischen Schriftstellerin Hermynia
Zur Mühlen (1883 Wien - 1951 Radlett, Eng¬
land) und lobt an anderer Stelle ihr ‚stark
ausgeprägtes Selbstbewußtsein, ein unbe¬
stechliches Gerechtigkeitsgefühl... Eine Ari¬
stokratin von Geist, nicht nur von Ge¬
blüt...ihre Schaffenskraft haben die Nazis
ebensowenig zu brechen vermocht wie ihren
unbeugsamen Charakter...“
Und Manfred Altner zieht im Vorwort der
1997 von ihm herausgegebenen Biographie
dieser interessanten Frau das Fazit: „Aben¬
teuerlich und bewegend - wie das Schicksal
manches ihrer Bücher - verlief Hermynias
Leben.“
Ihr Märchenbuch „Was Peierchens Freunde
erzählen“ (1921) war das auflagenstäckste
und weitverbreiteste Werk der deutsch-spra¬
chigen proletarischea Kinder- und Jugendli¬
teratur; es wurde in 10 Sprachen verlegt. Als
Übersetzerin übertrug sie etwa 100 Romane,
Dramen und Aufsätze aus verschiedenen
Sprachen ins Deutsche, setzte sich dabei be¬
sonders für die Verbreitung der Werke Upton
Sinclairs ein, erreichte aber auch selbst als
Autorin ein breites Publikum. Hermynia Zur
Mühlen (1883 Wien - 1951 Radlett, Großbri¬
tannien), aus dem österreichischen Hochadel
kommend, wandte sie sich nach mißglückter
Ehe mit einem baltischen Großgrundbesitzer
und dem Beginn ihrer publizistischen Tätig¬
keit (von 1919 bis 1927 arbeitete sie vorwie¬
gend für den Malik-Verlag, Berlin, als Über¬
setzerin und Autorin) ganz der Arbeiterklasse
zu. Sie engagierte sich für deren politische
und kulturelle Ziele, brach aber 1934 mit der
KPD wegen erster Auswüchse des Stalinis- |
mus. Ihre konsequente Haltung gegen,den |
Faschismus dokumentierte sie u.a. mit den |
Romanen ‚Ein Jahr im Schatten"(1935) und 3
„Unsere Töchter, die Nazinen“ (1934/1936).
An der Seite ihres zweiten Lebensgefährten,
des Übersetzers Stefan I. Klein (1989-1960)
durchlebte sie entbehrungsreiche und zu- |
gleich schaffensreiche Jahre des Exils in |
Großbritannien. Hermynia Zur Mühlen
schrieb in fast allen europäischen Sprachen
und veröffentlichte viel, jedoch zumeist in
kleinen Auflagen. a iid
Nach 1945 konnte sie infolge von totrigen 4
nicht in ihre Heimat Österreich zurückkeh¬
ren, obwohl sie 1948 aus Anlaß ihres 65.
Geburtstages u.a. im „Österreichischen Ta¬
gebuch“ als eine der bekanntesten fortschritt- ?
lichsten Autorinnen gewürdigt wurde.’
Von Schriftstellerkollegen wie Egon Erwin |
Kisch, Karl Kraus, Wieland Herzfelde, Al- ?
bert Ehrenstein, Henri Guilbeaux wurde sie
hoch geschätzt. Ihre Autobiographie „Ende =
und Anfang"(1929), die Romane „Die weiße ?
Pest"(1926), ,,Unsere Töchter, ' die Nazi:
nen"(1936), ,,Als der Fremde kam. Ein Exil- °
roman“ (1946) sind wichtige literarische ?
Zeugnisse der Geschichte unseres Jahrhun- |
derts - und doch geriet diese Autorin mit
ihrem überaus facettenreichen Leben und ?
Schaffen eigenartigerweise rasch in unver- 3
diente Vergessenheit. A
Seit Mitte der siebziger Jahre bemüht sich 1
Manfred Altner mittels Forschung und Ver- |
öffentlichungen intensiv darum, Hermynia |
Zur Mühlen und ihr umfangreiches Werk |
wieder einem breiten Leserkreis zu erschließ- |
en: u.a. sind ihm verschiedene Neuauflagen
zu verdanken; ebenso die 1990 erfolgte Ver¬
filmung von „Die weiße Pest“. 4
Die von ihm beim Verlag Peter Lang in Bern
herausgegebene Biographie „Hermynia Zur
Mühlen“, die er selbst als eine Art,Spuren- |
suche bezeichnet, mit der er den äußeren |
Lebenslauf deriusoten Gräfin’ und ihre in¬
nere Wandlung zu rekonstruieren versucht;
ist ein sehr verdienstvoller Beitrag für die
Literatur- und‘ Exilforschung. Die ‘unter
schwierigen Bedingungen akribisch recher¬
chierten Bibliographien zum Gesamtwerk
der Schriftstellerin und Übersetzerin sowie
zur Sekundärliteratur und sogar eine Bibli- |
ographie der Übersetzungen von Stefan L 4
Klein adeln den sogenannten Anhang zum }
überaus wichtigen zweiten Teil dieses be¬
merkenswerten Buches: gleichermaßen ein ©
Lesebuch und Nachschlagewerk. Bedenkt |
man außerdem die komplizierten Bedingun- }
gen während der Exil- und Kriegszeiten, wo- |
durch Manuskripte ebenso wie Lebensspu+ ?
ren verlorengingen, so kann man dieser Bio- *
graphie nur weite Anerkennung und yer
breitung wünschen.
Manfred Altner: Hermynia Zur Mihlen. Eine '
Biographie. Bern: Verlag Peter Lang 1 997.257 |
S. 13 Abb. OS 350,-/ DM 53,- / SFr 42,- -/USD i
33,95 / £ 22,- ig