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Mit dem Herzen gedacht Karl-Markus Gauß’ Bericht einer Reise ins Unentdeckte Der Untertitel - ‚Nachrufe und Attacken“ - trügt in zweifacher Hinsicht. Er führt diejenigen in die Irre, die beim ersten Wort an rhetorische Pflichtübungen am Grabesrand denken und beim zweiten an blutige Schlachten, nach deren Ende die übriggebliebenen Feldherren einander ihres Respekts versichern. Im neuen Buch des Salzburger Essayisten Karl-Markus Gauß gibt es keine salbungsvollen Trauerreden, und es erscheinen auch keine Feldherren. Es ist außerdem kein Sammelband, sondern ein kompakter Führer durch jenes Land, das außer ihm nur eine kleine Schar Unentwegter (die Theodor Kramer-Partei, würde ich sagen) wahrzunehmen und zu würdigen bereit ist: das widersetzliche, aufrührerische Österreich und seine vergessenen Rebellen. Der Ausgangspunkt ist ebenso simpel wie einleuchtend: Gauß verwirft und verlacht beide Bilder, die von Österreich in Umlauf sind — jenes der Verklärer ebenso wie das der Verächter. „Verwechseln jene Österreich mit der Harmonie, die sie über das gesellschaftliche Leben verhängt haben, identifizieren diese es mit dem Zwang, den solche Harmonie in Wahrheit bedeutet. Wonach es die einen gelüstet, ekelt die anderen, aber es ist derselbe Knochen, an dem sie kauen, genüßlich oder würgend, je nachdem. Daher sieht das Österreich, das der St.Pöltener Bischof Krenn zur Prozession wider die Moderne führt, dem Österreich zum Verwechseln ähnlich, das Elfriede Jelinek über den Kamm ihrer Verachtung schert... So nahe sind einander die Gegner geraten, daß sie schon fast dasselbe sagen und ihre Persönlichkeit nur mehr darin zu artikulieren wissen, wie sie es sagen.“ Beide Seiten - ob Krenn oder Jelinek, ob Thomas Klestil oder Gerhard Roth, ob Peter Alexander oder Peter Tumini — übersehen in ihrem Überschwang (Überschwang der Liebe wie des Hasses) die Tatsache, daß nicht nur Taktieren, Ducken, geschmeidiges Anpassen an die jeweiligen Verhältnisse in diesem Land zu finden sind, sondern auch Einspruch, Rebellion, Widerstand. Sie schielen bei ihren Urteilen, die sich nie im Befund, nur in den Vorzeichen unterscheiden, über Österreichs Grenzen hinaus nach „Europa“, das Gauß höhnisch „Die Vereinigten Europäischen Staaten von Amerika“ nennt und das die Konformisten wie die Kritiker, in einer letalen politischen Tradition befangen, mit Deutschland gleichsetzen. Dieser gleichermaßen ängstliche wie empörte Blick über die Grenzen, was das Ausland dazu sagen wird, ist vielen Bürgern von Kleinstaaten gemeinsam. Er hätte übrigens auch seine Vorzüge, würde er nicht zur Selbstaufgabe führen; immerhin wäre Zweifel die tägliche Medizin, die vorder Erkrankung der Sinnesorgane schützen könnte, alles, was in der Welt geschieht, auf . die eigene Mitte zu beziehen. Von seinem ersten Buch, iiber den Schriftsteller Albert Ehrenstein, ja von seinem ersten Aufsatz an hat Karl-Markus GauB ein Osterreich gefunden, ,,von dem die Verklarer mit ihrer selektiven Zuneigung nichts wissen möchten und um das sich die Verächter mit ihrer umfassenden Abneigung niemals bemüht haben“, weil dieses Bemühen Wissen um die Geschichte vorausgesetzt hätte und auch ein Verständnis von Geschichte, demzufolge nicht nur die negativen Folgen sozialer, religiöser und politischer Konflikte auf die Gegenwart kommen, sondern auch die von Gauß beschworene und an vielen Einzelfällen illustrierte „Spurder Revolte“ erkennbar bleibt. Wie der ihm wesensverwandte, in Österreich beleidigend wirkungslos gebliebene Publizist Friedrich Heer begreift Gauß Geschichte „als fortwährenden Kampf gegensätzlicher Interessen, Ideen, Ideale, Zwangsvorstellungen“, deshalb hält er ihn auch nicht schon vorab fürentschieden - „kann man, muß man in ihn eingreifen“. „Geschichte, also: Gegenwart“, heißt es an einer Stelle, und von diesem Geschichtsverständnis her ist die Inbrunst zu verstehen, mit der Karl-Markus Gauß „ins unentdeckte Österreich“ führt. Im Bild, das er von Friedrich Heer zeichnet, erkenne ich ihn selbst: Heer, schreibt er, dachte mit dem Herzen und fühlte mit dem Kopf. Alle, die Gauß dem Vergessen oder der Anekdote entreißt und als Gefährten wahrnimmt, dachten offenbar mit dem Herzen, fühlten mit dem Kopf — die frechen Aufklärer Paul Weidmann, Amand Berghofer, Anton Ferdinand Edler von Geißau (die es, folgt man der herrschenden Geschichtslüge, gar nicht hätte geben dürfen), die revolutionären Schriftsteller von 1848 Cäsar Wenzel Messenhauser (füsiliert) und Hermann Jellinek (füsiliert), der schon erwähnte streitbare Friedrich Heer (verlacht, totgeschwiegen, nach seinem Tod totgeredet) und, als einzig Lebender, der Dichter Michael Guttenbrunner. Guttenbrunner, Jahrgang 1919, Kärntner Roßknecht, Antinazi, wegen seiner Zivilcourage auch nach Kriegsende polizeiauffällig, als Querulant verspottet, ist erst spät — und wie ich fürchte, von den Falschen, denjenigen nämlich, die ihre Melancholie an der Flamme seiner Bitterkeit wärmen —als die moralische Größe entdeckt worden, die es, den österreichischen Österreich-V erächtern zufolge, nie gegeben hat. Einzelgänger. Das Werk, an dem Karl-Markus Gauß nun schon über Jahrzehnte beharrlich, aber nicht weltabgewandt, grimmig, aber stilvoll, gelegentlich mitkaum gebändigter Wucht, aber stets voller Humor schreibt, ist dem Kampf um die Identität verpflichtet. Gauß gibt sein Ideal nicht der Realpolitik preis, die für Österreich die Rolle eines überangepaßten Zöglings in der sogenannten Staatengemeinschaft vorsieht. Er findet Rückhalt bei einer Reihe politisch engagierter Schriftsteller oder publizistisch tätiger Revolutionäre, die, auch wenn sie sich als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung empfanden, als Versprengte, Übriggebliebene, Todgeweihte, oder schlimmer: als Sonderlinge geendet haben. Gauß_ Nähe zu ihnen, emotional wie politisch, Korrespondiert mit der Nähe seiner, unserer Zeit zu ihrer Lebenszeit. Es scheint, als würde die Gegenwart einem wie ihm auch nur die Vereinzelung bieten, an der seine Helden zerbrochen sind. Im unmhigen Osterreich, das wir mit seiner Hilfe bereisen, ist heutzutage keine politische Kraft in Sicht, die zum Trager gesellschaftlichen Umschwungs werden könnte — die Arbeiterklasse zweifach zerschlagen, die Grünbewegung mit Käuzen oder Karrieristen durchsetzt, das nachgewachsene Bildungsbürgertum halb der Werbewirtschaft, halb den Zukunftsängsten erlegen, der kritische Katholizismus auf die reaktionäre Amtskirche fixiert, die intellektuelle Linke auf acht oder neun Einzelkämpfer geschrumpft, die antifaschistischen Widerstandskämpfer über achtzig und im Grab. Und trotzdem! Hoffen, kämpfen, schreiben. Und wie Gauß, anders als Heer, denen keine Hand zur Versöhnung reichen, die nicht der Versöhnung bedürfen. Ich habe angedeutet, daß sich die Haltung des Autors in den biographischen Skizzen und literarischen Beschreibungen spiegelt, die er von Fall zu Fall vomimmt. Am deutlichsten wird dies im Kapitel über Michael Guttenbrunner, dessen poetisches Selbstverständnis: „Also nichts als Affekt und Attacke; und nicht Unterricht, sondern Erschütterung“, fürKarl-Markus Gauß die Grundlage bildet, um einen zweiten falschen Gegensatz (wie den zwischen „Patrioten“ und ,,Nestbeschmutzern“) aus der Welt zu räumen: Guttenbrunners Poetik, so Gauß, sei gleich weit vom Utilitarismus der politischen Literatur wie von den sprachzertriimmernden Experimenten der Avantgarde entfernt. Guttenbrunner beharre ,, vehement auf der, ja: Heiligkeit der Sprache — sie allein birgt im Zerfall der Zivilisation noch Hoffnung“. Und das Vergangene, all die hochfahrenden, in Blut, Wahnsinn oder Gemütlichkeit erstickten Bemühungen, dem Lauf der Dinge eine andere Richtung zu geben? Sie leben fort „‚als Versprechen, daß ein anderer Verlauf der Geschichte möglich ist, daß die Würde einfacher, ungebeugter Menschen geschichtsmächtig werden könnte“. Gauß’ großer Essay, der anmutet, als wäre er in einem Fieberschub geschrieben worden, traumscharf, oder mit jenem überreizten Bewußtsein, das sich nach durchwachten Nächten einstellt, wenn die Erschöpfung neuer Klarheit weicht, und der sich doch dem Gegenteil verdankt: einer geordneten, geruhsamen Existenz, Fleiß, Disziplin, Mühsal der Routine — dieser Reisebericht ins Unentdeckte entzerrt das Bild, das man sich diesseits wie jenseits der Grenzen von einem Land und dessen Menschen macht; ich begreife ihn aber auch als Vorwurf an den Verfasser und seine Leser: was machst du mit deinen paar Jahren, für wen oder was lebst du, auf wessen Seite schlägst du dich, wem stehst du bei, was unterläßt du. Es spricht für den Autor, daß zwischen diesen bohrenden Fragen immer wieder Lachen aufklingt, über den „‚Lodenmantel des Schweigens“ nach 1945, den „ästhetischen Landpfarrer‘“ Hermann Nitsch, den buchhalterischen Eifer, mit dem der Schriftsteller Heimito von Doderer seine sadistischen Sonntagspraktiken vermerkt hat, die ungeahnten Gemeinsamkeiten der Fernsehholde Karl Moik und Hermes Phettberg und die bizarre Dosenstreichelsehnsucht der Sexualtherapeutin Rotraud Perner. Aber nie verrät Gauß, der Pointe 53