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Hermann Hakel und der ostjüdische Humor Nicht nur Bücher, auch Nachlässe haben ihre Schicksale. Sie landen auf dem Müll, wie nach dem Tod von Adelbert Muhr leider geschehen; das Moderne Antiquariat auffüllen wie im Falle Friedrich Torbergs, oder sie werden zu Prohibitivpreisen zelebriert wie der Nachlaß von Paul Celan. Die kleine LYNKEUS-Gruppe in der Hermann Hakel Gesellschaft, die den NachlaB von Hermann Hakel verwaltet, hat demgegenüber eine vorbildliche Mittellösung gefunden: Sie ediert behutsam in kleinen Auflagen und war sichtlich überrascht, als sich einer dieser liebevoll zusammengestellten Nachlaßbände nach einer ganzseitigen Besprechung KarlMarkus Gauss’ in der Presse zum Bestseller entwickelte. Nun, solche Ehren sind Hakels Sammelband jüdischen Humors kaum zuteil geworden. Ich spreche absichtlich nicht von Witzen, weil der Judenwitz — wie Hakel in seinem Vorwort überzeugend darlegt — der gojische Witz über die Juden ist. Das, was der Jude als Humor versteht und weitererzählt, hat literaturgeschichtlich noch keine zutreffende Bezeichnung gefunden, weil die kleinen Geschichten auch dieses Bandes von der an eine Person gebundenen Anekdote ebensoweit entfernt sind wie von der anspruchslosen Parabel. Sie sind eigentlich nichts anderes als reizvolle Brosamen einer unaufhörlichen Gewissenserforschung jenes nicht nur für uns unergründlichen Volkes — auch die Juden selbst rätseln im Verein mit ihren Weisen seit talmudischen Zeiten an jenem Selbstverständnis herum, das sie in der Diaspora, in der anhaltenden Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung schließlich doch überstehen ließ. Hakels dies alles andeutendes, aber nicht ausführendes Vorwoit ist klug und sympathisch, aber es ist zu kurz. Emmerich Kolovic, der Herausgeber, war da in seiner Ehrfurcht zu vorsichtig, denn in Hakels verstreuten Essays hätte sich, wenn auch nicht gerade zum Witz, so doch zum jüdischen Grübeln, Spotten und Selbstverspotten, zur widerwillig-komischen Beknirschung und zum ebenso komischen Triumphgeschrei noch so manches gefunden, was hierher paßt. Denn obwohl Salcia Landmann noch in Galizien zur Welt kam und Hermann Hakel in Wien, hat man doch den Eindruck, daß er in aller Bescheidenheit entschlossener zum Wesenskern des jüdischen Humors vorgestoBen ist als die große Schweizer Sammlerin. Natürlich ist vieles bekannt; der Band ist ja als Dokument konzipiert, nicht als Novität, das schadet also nicht. Eher stört Unjüdisches wie der Kalauer, der typische Stammtischw itz, sehr geeignet für Altherrenrunden schlagender Verbindungen und Offizierscasinos, weil man ihn lallend erzählen und betrunken noch immer verstehen kann. Für die Juden ist er zu flach, zu eindimensional, und es wird der Jude Karl Kraus sein, der ihn zu Grabe trägt, indem er den immanenten Sprachwitz wie einen Djinn aus der Flasche befreit. 56. Die schönsten Stücke der kleinen Sammlung sind denn auch jene, bei denen man über wenige Zeilen lange nachdenken kann, wenn etwa von einem Herschl erzählt wird, der trinkt, in Armutlebt, aber jung und blühend aussieht. „Wie kommt das“, fragt ihn der Rabbi, „‚daß du so jung aussiehst?“ „Das ist ganz einfach‘ , antwortet Herschl, „mein böses Weib stiehlt mir die Hälfte meiner Jahre.“ — Sechs Zeilen im Buch, aber man könnte sechs Stunden darüber reden. Vielleicht hätte Hakel das Imperfektum vermeiden und alles im Präsens erzählen sollen, ist doch, was er erzählt, nicht irgendwann in alten Zeiten passiert, sondern zeitlos, über den Grenzen und den Epochen schwebend, als das sehr österreichische Vermächtnis „unserer“ Juden, die zu Wien um so vieles besser passen als die glanzvolle Welt jener Sepharden, die sich die Niederlande und England erobert haben. Das unsterbliche und immerwährend fruchtbare Geheimnis des Ostjudentums, wie es Lemberg, Czernowitz, Triest und Wien sich allenfalls noch mit Odessa und Brooklyn teilen, Hermann Hakel hat ein wenig Perlmutterglanz davon eingefangen. Hermann Schreiber „Oj, bin ich gescheit!“. Ostjüdischer Humor. Hg. und eingeleitet von Hermann Hakel. Wien: Löcker Verlag 1996. 179 S. ÖS 248,-. Zwei neue Bücher Josef N. Rudels Der aus Czernowitz stammende Schaiftsteller Josef N. Rudel lebte bis 1972 in Bukarest, wo er in rumänischer Sprache unter dem Pseudonym Radu Nor 30 Bücher veröffentlichte, Nach seiner Auswanderung nach Israel begann er wieder in seiner deutschen Muttersprache zu schreiben. 1978 erschien sein erstes deutsches Buch „Süße Mandeln, bittere Rosinen“. Er wurde geschäftsführender Vizevorsitzender des von Meir Faerber gegründeten deutschsprachigen Schriftstellerverbandes und 1993 dessen Nachfolger als Chefredaktuer der 1944 gegründeten traditionsreichen Monatsschuft der Bukowiner Juden „Die Stimme“. Die vorliegende Sammlung von Rudels Leitartikeln aus dieser Zeitschrift beginnt mit einem kurzen Abnß ihrer Geschichte, Die Artikel selbst befassen sich mit den aktuellen Problemen des Staates Israel und sind ein hoffnungsloser und naiver Stummlauf gegen die erschrekkende politische und religiöse Radikalisierung, wie folgendes Zitat über die ultraorsthodoxen Juden zeigt: „‚Wieso begreifen sie nicht, daß die Welt anders geworden ist, und daß wir nicht mehr leben wie im Mikrokosmos des galizischen Schtetls? Wieso begreifen sie nicht, daß auch die religiöse Jugend frischen Sauerstoff braucht, Licht und Sonne, körperliche und geistige Freiheit? Und daß sie nicht weiterleben kann in dieser neuen Welt als ein Fossil der Galüt?“ Der zweite Band, die jüdischen Geschichten aus Czernowitz und Bukarest schildern das vergangene Leben einer vernichteten Kultur, die Sonderlinge, Journalisten und Sozialisten, die Rudel einst in der Bukowina kannte. Diese Literatur beweist | die Wahrheit seines Satzes: „Die Czernowitzer ) sind über die ganze Welt verstreut, Siesind überall zu finden, sogar in Patagonien, — nur nicht in % Czernowitz. Also worüber sollen sie reden, wenn | nicht über Czernowitz?‘“ Der Band enthält auch eine kurze und sehr informative Geschichte des ? Verbandes der deutschsprachigen Schriftstellerin ° Israel. ! Herausgegeben wurden beide Bücher von Erhard Roy Wiehn, Professor für Soziologie in Konstanz, der im Verlag Hartung-Gore zahl- = reiche Bücher über jüdische Themen ediert oder publiziert hat. Me a EA. Josef N. Rudel: Wir schöpfen Kraft aus Tränen: ? Leitartikel aus ‘Die Stimme’ Tel Aviv. Monats- | schrift der Bukowiner Juden 1993-1997. 83 S.. ° Das waren noch Zeiten. Jüdische Geschichten | aus Czernowitz und Bukarest. 74 S. ‘ Beide Bände hg. von Erhard Roy Wien. Kon- + stanz: Hartung-Gorre Verlag 1997. Nachdenken über Jean Améry A Der aus Österreich stammende radikale Huma- | nist und Aufklarer Jean Améry wurde in seiner. % Heimat kaum je adäquat gewürdigt. Dies wird auch deutlich in dem von Stephan Steiner herausgegebenen Sammelband „Jean Ame£ry: : (Hans Maier)“, der auf die Beiträge eines von, | ihm 1992 in Wien organisierten Symposions ° zurückgeht. Es ist zwar kein Buch über Jean; ° Amery, das heißt keine Folge von gelehrten, Analysen und Abhandlungen über das Leben, ° und Werk des besprochenen Autors. Aber.das macht es nicht weniger wichtig und lesenswert, im Gegenteil, seine Qualität entspricht dem Rang seiner Autoren. Nachdenken über Jean, Améry mit autobiographischen Implikationen. | könnte die Überschrift zu den meisten Beiträ-; gen lauten. So formulierte Jakov Lind: „Der; Gott meiner Generation und der des Jean Améry ... hatte ungleich seinem namenlosen Vor-; | gänger zumindest drei Namen. Moral. Ver-; | nunft. Erzichung. Und wir glaubten an diesen Gott mit dem gleichen Eifer, mit dem unsere GroBvater und UrgroBvater Adonai anriefen ..“ Und er beschrieb diese neue säkulare jüdi-. sche Identität auch noch in der Folge ausführ-, ‘ lich. Ruth Beckermann nannte die Lektüre von Jean Am£ry, den sie zuerst für einen Franzosen gehalten hatte, ein Gegengift zum Muff der fünfziger Jahre. Er war einer jener Autoren, der von all dem sprach, wovon ihre Eltern schwie-, gen. Hermann Langbein berichtete von seinen; weniger bekannten Franzosen Georges Wellers; ° und beschrieb ihre gemeinsame Überzeugung in bezug auf die junge Generation in den bela-; steten Ländern: „Man muß diesen jüngeren: | Menschen helfen, mit dieser Last fertig- zuwerden .... Darum hat Améry Gespräche in Deutsch- , | land und in Österreich gesucht und gefunden;, ® darum hat Primo Levi sein Einverständnis er-