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Streit um die gute oder die böse Schweiz überlagert von der Vision einer kranken Schweiz“. Die Debatte um das von der Schweizer Nationalbank während des Zweiten Weltkrieges verwahrte und weiterverteilte deutsche Raubgold hat inzwischen die „Vision einer kranken Schweiz“ eher verstärkt. Die Vergangenheit, in welcher ‚‚die Kriegs- und Hitlerzeit“ endgültig entsorgt werden hätte können, war in geschichtlicher Zeit nicht zu finden. Wurde in der neueren Schweizer Literatur der Verlauf einer Krankheit zur Handlung, so traten in Österreich vermehrt die Versehrten, Verstümmelten, durch Gewalt und Mißgeschick früh ums Leben Gekommenen in die Literatur. Sie waren, bei Anna Mitgutsch, Alois Hotschnig, Norbert Gstrein, keine fertigen, „‚aus der Pistole geschossenen“ Typen zur bloßen Ausgestaltung des Szenariums, sondern Protagonisten eines umgekehrten, zum Verlust des Lebensglücks statt zur persönlichen Freiheit führenden Bildungsromans. Sie hatten verloren, ehe sie gewonnen hatten. Nur im Verlust deuteten sie auf die anderen, besseren Möglichkeiten. Sie schrien nach der Wärme und Zärtlichkeit eines Landes, das sich zur Härte entschlossen zu haben schien. Man mußte auf sie nicht hören. Aber man mußte sich die Frage gefallen lassen, ob die Verstümmelten der Literatur nicht in ,,unheimlicher Weise“ Metapher waren für ein verstümmeltes Österreich. Zwei „kranke“ Länder? Doch sowohl in der Schweiz als in Österreich geht es mit der neuen Epoche der Literatur nicht gut voran. Zum einen scheinen Identitätskrise, Selbstzweifel und Gewissenserforschung, die doch unzweifelhaft eine Belebung der Geister mit sich brachten, einem sich selbstsicher gebärdenden Feuilleton eher als Zeichen der Schwäche denn der Vitalität zu gelten. So spricht Clemens Renoldner (,,Wie kommen die Löcher in die Schweiz?“ in: Die Presse, 3.10. 1998) aus Anlaß des Schweiz-Schwerpunktes der Frankfurter Buchmesse vom , ktimmerlichen Image des Schweizer Geisteslebens in Deutschland und Europa“ und vermutet, daB es die ,,Identitatskrise“ sei, ,,die dieses Land gegenwartig so sehr entbl6Bt*. Er konstatiert das Fehlen neuer großer Romane und beobachtet eine , ,neuerliche Hinwendung auf das Leben in der kleinen Abgeschiedenheit“. (Das Ausbleiben des ‚großen deutschen Romans“ krankte auch nach der deutschen Vereinigung, der ‘Wende’, das Feuilleton. Seit dem 19. Jahrhundert hat ja der „große Roman‘ bei den Verfechtern der ,,deutschen Nationalliteratur‘“ von Gervinius bis Lukäcs den Status eines literarischen Messias.) Andererseits diagnostiziert auch Alexandra Stähelin, Literaturredakteurin der linken Züricher », WochenZeitung“, daB die Schweizer Literatur im groBen und ganzen aus dem Diskurs der 1970er Jahre nicht recht herausfindet, nicht herausfindet aus dem Leiden an und der Flucht vor der Enge und weiter anschreibt gegen ein ,,ererbtes Selbstverstindnis“, gegen den ,,Sonderfall Schweiz“ und seine ,,Abkapselung gegenüber dem restlichen Europa“. Der „kritische Patriotismus “ ringt wie ein Vierteljahrhundert zuvor mit dem „‚emotionalen Patriotismus“ und genießt gewissermaßen nun die Früchte seiner Anstrengungen, denn, so Stähelin, „es ist einfach, dort ironisch-kritisch zu brechen, wo es nichts (mehr) zu brechen gibt.“ (WochenZeitung, 1.10. 1998). Und die österreichische Literatur? Hat sie nicht auch wieder den Rückwärtsgang eingelegt, ist sie nicht bald wieder beim kritischen Heimatroman (so Robert Menasse mit „Schubumkehr“) und beim immer vergeblicheren Versuch angelangt, aus dem sprachkritischen Instrumentarium der Avantgarde der 1950er Jahre den Ansatz einer Gesellschaftskritik zu gewinnen? Und haben inzwischen das breite Publikum und die Kulturver6waltung nicht mit Thomas Bernhard endlich den großen Schriftsteller der Zweiten Republik gefunden, in dessen idiosynkratischem Österreichertum man es sich leicht noch ein paar Jahre weiter bequem machen kann, wehmütig und skeptisch auch, aber ohne auf die dem Land und seiner Geschichte gestellten Fragen wirklich eingehen zu müssen? So zeigt sich, daß die Literaturen der Schweiz und Österreichs anscheinend im gleichen Takt nebeneinander gehen, aber jede von ihren eigentümlchen Sorgen erfüllt. Solcher Gleichtakt nimmt jedoch nicht Wunder. Denn die Literatur entwickelt sich ja nicht aus dem schrillen oder auch wohltönenden Zusammenklingen unterschiedlicher National- oder Regionalliteraturen und den ihnen innewohnenden ‘Volksgeistern’, sondern es ist umgekehrt der in zeitlicher und räumlicher Hinsicht übergreifende soziale und politische Prozeß, der die nationalen Verschiedenheiten hervortreibt und sogleich wieder aufhebt. Vielleicht hat sich Peter von Matt mit seiner Vermutung, angesichts der manifest gewordenen Grenzen des Fortschritts werde nun ein neuer Fortschrittspessimismus die alten Oppositionen der Literatur durchkreuzen, zumindest teilweise geirrt. Nicht der Fortschritt ist an seine Grenzen gestoßen, sondern eine bestimmte Vorstellung von Fortschritt hat ihre Geltung verloren. Die Art von Fortschritt, die heute triumphiert, nimmt nicht mehr Maß an der Heilung von Krankheiten, an der Behebbarkeit von Elend. Es ist ein Fortschritt, der sich selbst genügt, dem sich die Individuen als Opfer darzubieten haben. So jedenfalls meint es der Jargon der Herausforderung, der gegenwärtig jeden politischen Gedanken mit seinen von Spengler und Toynbee geliehenen Untergangsängsten niederschlägt. Es istein Fortschritt, der, so brutal er an den Mann gebracht wird, doch seine heimeligen Seiten hat — nämlich für all jene, die die Suche nach einem vernünftigen menschlichen Lebenszusammenhang aufgegeben haben. Ihnen gibt er recht. Für die Schreibenden jedoch wird die alte Alternative wieder aktuell: entweder ‚Ja zur Metropole“ oder „Schreiben in der Peripherie“, entweder ironische, elegische oder direkt apologetische Verbundenheit mit den Hauptmomenten der Gegenwart, Zeitgeistigkeit, oder aber Solidarität mit dem Peripheren, Ungleichzeitigen. „Ortlose Botschaft“ ist der Titel der Ausstellung über den Freundeskreis H. G. Adler, Franz Baermann Steiner und Elias Canetti, die bis 2. November 1998 im Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar zu sehen ist. Die Ausstellung wird danach vom 15. November bis 15. Jänner 1999 im Literaturhaus Berlin, im Mai/Juni 1999 im Literaturhaus Wien gezeigt. Zur Ausstellung erscheint die von Marcel Atze bearbeitete Nr. 84 des Marbacher Magazins (ca. 192 S., DM 18,-). Aus Anlaß des 10. Todestages von H. G. Adler ist auch ein von seinem Sohn Jeremy herausgegebener Sammelband seiner Schriften erschienen (vgl. die Rubrik Buchzugänge). Tuvia Rübner in München Am Donnerstag, 12. November 1998, 20 Uhr, liest Tuvia Rübner in der Lyrik-Bibliothek, München, Schellingstr.3, aus seinem neuen Gedichtband „‚Rauchvögel“. Der 2. Internationale Stefan Zweig Kongreß fand vom 14.-16. Oktober in Salzburg statt. Veranstalter waren die Stadt Salzburg und die Universität Salzburg (Klaus Zelewitz). MdZ wird über den Kongreß noch berichten.