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Gerhard Scheit Die Flucht in die Literatur Glosse über Literaturkritik Es ist kein gutes Zeichen, wenn sich jemand nur mit Literatur beschäftigt — seis in der Germanistik oder im Feuilleton. Die Arbeitsteilung, die solche Berufsbilder ausprägt, wirkt sich meist fatal auf das Denken der durch die Arbeit Geteilten aus: So gesehen kann zu viel Lesen ernsthaft den Verstand gefährden. Dabei ist nicht unbedingt gleich an ein Extrembeispiel wie das Literarische Quartett zu denken. Wer nur noch von einer Neuerscheinung zur nächsten hetzt oder Autoren in Datenbanken verwandelt, merkt am Ende nicht mehr, daß er selbst Anhängsel der Akkumulation geworden ist, Durchgangspunkt für Kapitalbewegungen — mögen es auch unproduktive Sparten wie der Literaturmarkt oder überhaupt nur die symbolischen Reichtümer des Ruhmes sein. So endete die Studentenbewegung vielerorts als Literaturbetrieb: statt permanente Revolution, Literatur in Permanenz. Freilich, jeder ist, ob er will oder nicht, in gewisser Hinsicht nur noch ein solcher Durchgangspunkt des akkumulierenden Kapitals — doch die Fähigkeit zur Kritik bemißt sich daran, inwieweit eben dies bewußt werden kann. Das Instrumentarium hierfür, sollte es jemals ergriffen worden sein, ist allerdings schon längst einer allgemeinen Amnesie zum Opfer gefallen: die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Wer deren Begriffe heute in Zusammenhang mit Literatur gebraucht, wird sofort als „Ökonomist“ bloßgestellt. Ich aber weiß gar nicht, was ein Ökonomist sein soll. Vielleicht war Aristoteles einer, da er annahm, die Ökonomie, die Kunst der Haushaltsführung, könne die grenzenlose Dynamik der ‘Selbstvermehrung’ des Geldes in Schach halten. Vielleicht sind jene die wahren Ökonomisten, die andere als solche bezeichnen, glauben sie doch noch immer wie Aristoteles an die Begrenzbarkeit der durch das Kapital geschaffenen Wachstumsgesetze. Marx hingegen behauptete im Grunde für die Moderne das genaue Gegenteil: die Selbstverwertung des Werts - Wachstum und Zerstörung in einem — setze sich über jede Ökonomie hinweg, abstrahiere realiter von allem Konkreten und sei darum nicht zu bremsen, solange das Kapitalverhältnis existiere. Nicht um Basis und Überbau geht es im Kapital, sondern um die Durchsetzung der abstrakten Arbeit und ihres Zeitbegriffs. (Deshalb wäre vermutlich besser von ‘Abstraktionisten’ als von Ökonomisten zu sprechen.) Manchmal erscheint die Literatur und die ihr auf dem Fuße folgende Literaturkritik wie eine einzige große Fluchtbewegung weg von solchen Erkenntnissen — und damit meine ich nicht die Flucht in die L‘art pour l’art-Kunst, die sich wenigstens als solche deklariert, sondern im Gegenteil gerade die politischen oder arbeiterbewegten oder antifaschistischen oder feministischen Strömungen: nur weg von solcher intransigenten Analyse, die das real Abstrakte beim Namen nennt - hin zu den konkreten Personifikationen von Klassenkampf, Imperialismus- und Faschismustheorie, Gender studies; da kämpfen dann in Gestalt mehr oder weniger konkreter Menschen die Klassen öder die Nationen oder die Geschlechter gegeneinander; die bürgerliche Klasse gegen die adelige und die proletarische gegen die bürgerliche; die österreichische, kleine Nation gegen die deutsche, imperialistische; die Söhne gegen die Väter und die Frauen gegen die Männer. Das Konkrete erweist sich jedoch als Schein-Konkretes, wenn die realen Abstraktionen, die in solchen Kämpfen sich durchsetzen oder nicht, einfach links liegen gelassen werden. Eine Literaturkritik, die mehr sein will als Literaturpflege und -management, müßte sich dem entgegensetzen und in der dialektischen Spannung zwischen Abstraktem und Konkretem ausharren. Um ein in dieser Zeitschrift naheliegendes Beispiel anzuziehen: Sie müßte im Falle Theodor Kramers noch in der Iyrischen Konzentration auf den Gebrauchswert, in der Besessenheit, mit der Kramer die konkreten Dinge poetisiert, die unbewußte Präsenz des Tauschwerts sichtbar machen können — oder genauer: den Widerstand gegen seine abstrakte ‘Macht’; und sie müßte umgekehrt in der konkreten Poesie und ihrer poststrukturalistischen Nachfolge den Versuch erkennen, die realen Abstraktionen in ‘konkrete’ Sprachphänomene zu verwandeln, um sich über die gesellschaftliche Gewalt des Abstrakten hinwegzutäuschen. So gesehen kann Literaturkritik den wesentlichen Sinn wachhalten, den Literatur haben kann: Selbstreflexion. Wir Charaktere können uns dann als Charaktermasken kennenlernen, unsere Subjektivität angesichts des „automatischen Subjekts“ des Kapitals (Marx) in Frage stellen — ohne sie gleich wegzuwerfen (wie es die Postmoderne suggeriert). Dieser wache Sinn ist gleichsam extravertierte Psychoanalyse: er knüpft an eine Reflexion an, die das Subjekt stets schon vor dem Hintergrund der verinnerlichten Machtstruktur der Familie relativiert hat. Was aber den Charakter angesichts dieser Depotenzierung noch auszumachen vermag, ist nichts anderes als das Bewußtwerden der eigenen Projektionen und der herrschenden Fetischisierungen — und der kritische Umgang mit ihnen. Dies wäre immerhin eine der Voraussetzungen für ein Zusammenleben ohne Angst. Um alle anderen steht es im Augenblick ohnehin nicht gut. Entzieht sich die Literaturkritik jedoch dieser selbstreflexiven Spannung, richtet sie sich häuslich (ökonomisch!) in der Literatur ein und genießt die Schein-Konkretheit der erfundenen Geschichten und der fiktiven Subjektivität — es wäre wirklich besser, sie existierte gar nicht. Von Gerhard Scheit erschien heuer der Band Mülltrennung. Beiträge zu Politik, Literatur und Musik im Hamburger KonkretVerlag. Berichtigungen Leider sind in Christian Kloybers Aufsatz „Mexiko - Exilland 1938“ in MdZ Nr.1/1998 die Lebensdaten von Isidro Fabela geben. Bei dem Gedicht von Paalen auf S. 20 fehlen die letzten beiden Zeilen: All totalitarian tyrannies banished modern art. They are right. For as a vital stimulus to imagination, modern art is an invaluable weapon in the struggle for freedom. Der in MdZ Nr.2/1998 auf S. 59 gedruckte Text ,,Robert Kahn — ein Blatt der Erinnerung“ hat sich nicht selbst fabriziert, sondern stammt von Helmut Kreuzer (Siegen).