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bedauert. Die nationalsozialistischen Repressionsmaßnahmen nennt Kraus ‚die Erpressung an den Erpressern, [...] jener Zugriff, der so manche Piraten zwang, sich von den Aktien eines Familienbesitzes an öffentlicher Meinung zu trennen und das Raubschiff politischen Korsaren zu überlassen.‘ (44) Die Differenz zwischen Piraten und mörderischen Korsaren ist hier kaum mehr erkennbar. Kraus hatte allerdings ein ganzes Leben lang die Zeitung als „‚Meinungsgeschäft‘“‘ mit immer neuen Zitaten demaskiert, Zitaten, die vielfach der Welt des Theaters und der Theaterpublizistik entstammten. Wenn die Utopie eines vernünftigen Schreibens über Theater im Rahmen des Journalismus von Kraus also niemals vertreten werden konnte, so war sein eigenes Schreiben über Theater der stete Gegenentwurf zum Theaterjournalismus.!! Die verschiedenen Möglichkeiten des Schreibens über Theater flossen bei ihm ineinander, der Essay über einen Autor ging in die Kritik einer Aufführung über oder wandelte sich zur Polemik gegen die Phrasen und Mißverständnisse der Theaterkritik. Etwas von diesem Übersteigen der Schranken findet sich in der österreichischen Theaterpublizistik des Exils wieder, besonders in den Beiträgen der Austro American Tribune. Es wäre allerdings verfehlt, Kraus’ fundamentale Kritik an der Theaterpublizistik mit diesen Beiträgen schlicht zu harmonisieren. Einer der bedeutendsten Theateressayisten der Austro American Tribune war Ludwig Ullmann, dessen im Wien der 1920er und 30er Jahre geschriebene Theaterkritiken Kraus wiederholt satirisch bloßgestellt hatte. Es ist wohl anzunehmen, daß die Verehrung Max Reinhardts, die Ullmann in seinen Aufsätzen für die Austro American Tribune ausdrückte, kaum die Zustimmung von Karl Kraus gefunden hätte. Auch war die Phrase aus dessen Theaterkritiken nicht plötzlich verschwunden. Umgekehrt ließe sich mit dem Blick auf Ullmanns engagierte Theaterpublizistik von den 30er Jahren bis ins Exil manche Argumentation in der Dritten Walpurgisnacht problematisieren.'? Vielleicht stellt sich aber dann heraus, daß die Dritte Walpurgisnacht bereits ein Werk des Exils ist, und eines der besten, nicht nur in der Frage der Theaterkritik anwendbar bis heute, obwohl oder weil man so viel in Frage stellen kann. Die Wiederentdeckung der Schriften von Karl Kraus nach 1945 hat auch in der Theaterpublizistik ihren Niederschlag gefunden. Dies geschah auf vielfältige Weise, sei es produktiv als Versuch, die Phrasen des Theaterjournalismus’ zu vermeiden oder die Dichtung gegen ein Theater der leeren Effekte zu verteidigen, sei es in epigonaler Weise als unkritische Übernahme von Urteilen einschließlich aller Krausschen Idiosynkrasien oder sei es auch nur im Bemühen, die eigenen Bonmots mit der Maske des Kraus-Schülers aufzuwerten. Auf den schwankenden, die Meinung nach den jeweiligen instrumentellen Absichten konstruierenden Duktus von Theaterpublizistik, den Kraus so vielfältig diagnostizierte, hatte Günther Anders 1966 in seinem Aufsatz über Brechts Galilei im Programmheft des Burgtheaters mit Rekurs auf Kraus verwiesen: Eigentlich ist es schon blamabel genug, daß es die gleichen sind, die Brecht das eine Mal als Tendenzdichter, das andere Mal als reinen Ästheten abweisen, daß sie sich also nicht einmal dazu entschließen, was sie ihm eigentlich verübeln wollen, so lange sie nur wissen, daß sie ihm etwas verübeln. Aber die Tatsache, daß sie sich solche Blamage leisten können, das heißt: daß es keine Instanz mehr gibt, vor der sie sich blamieren können, die ist wohl noch blamabler. Und die wäre wahrhaftig des Hohns eines Karl Kraus würdig gewesen." 12° Anmerkungen 1 Berthold Viertel: Das Gnadenbrot. In: Dichtungen und Dokumente. Gedichte. Prosa. Autobiographische Fragmente. Ausgew. und hg. v. Ernst Ginsberg. München 1956, 176. 2 Alfred Polgar: Warnung als Vorwort. In: Kleine Schriften. Bd. 6. Theater II. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1986, 27. 3 Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte vgl. u.a. Jochen Stremmel: „Dritte Walpurgisnacht“. Über einen Text von Karl Kraus. Bonn 1982. Stremmel datiert die Absicht, das Werk zu schreiben mit dem 5. März, den Beginn der Arbeit mit Mitte März und den Abbruch mit Ende August bzw. Anfang September 1933. Kraus, so Stremmel, habe sodann den Plan gefaßt, die Dritte Walpurgisnacht „sollte es ihm selbst schon verwehrt sein, sie zu veröffentlichen, der Nachwelt zu hinterlassen“ und weitere Korrekturen am Fahnenkonv olut angebracht, die ,,erst nach dem 13. September vorgenommen sein können.“ ($. 72). In der Fackel vom Juli 1934 zitierte Kraus Abschnitte seines Werkes. Die Buchausgabe der Dritten Walpurgisnacht besorgte erstmals 1952 Heinrich Fischer. Die erste vollständige Publikation, aus der hier zitiert wird, erfolgte durch Christian Wagenknecht im Rahmen der Edition der Schriften von Karl Kraus im Suhrkamp-V erlag. (Karl Kraus: Dritte Walpurgisnacht. Hg. v. Christian Wagenknecht. Schriften Bd. 12. Frankfurt a. M. 1989. Der Band enthält eine Bibliographie zur Forschungsliteratur). Zu den Motiven von Kraus, die Dritte Walpurgisnacht unveröffentlicht zu lassen vgl. u.a. Kurt Krolop: Bertolt Brecht und Karl Kraus. In: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Berlin (DDR) 1987, 270ff. 4 Kurt Krolop bestimmt den ,,Kontrast des perennierenden, vor allem an Reinhardt und Werfel exemplifizierten Prominentenrummels zur blutigen Realität des Dritten Reiches“ als eines der Hauptthemen der „letzten ‚Fackel‘-Hefte“. Als „‚zweite(s) Leitthema“ bezeichnet Krolop, Kraus zitierend, ‚‚die Polemik gegen eine ‚Kulturwirtschaft [...] die, in der Tat zwangsläufig, den Jodler für den Gipfel der Gottesschöpfung hält‘“. Vgl. Kurt Krolop: Vom ,,Kasmader“ zum ,,Troglodyten“. In: Reflexionen der Fackel. Neue Studien tiber Karl Kraus. Wien 1994, 103. 5 Paul Stefanek: Karl Kraus versus Max Reinhardt oder: Kraus als Schauspieler unter Reinhardt? In: Vom Ritual zum Theater. Gesammelte Aufsätze und Rezensionen. Hg. von Brigitte Stefanek-Egger. Wien 1992, 395. 6 Vgl. Kurt Krolop: Präformation als Konfrontation — „Drittes Reich“ und „Dritte Walpurgisnacht“. In: Sprachsatire a.a.O., 210-229. 7 Karl Kraus: In dieser großen Zeit. In: Die Fackel Nr. 404 (Dezember 1914), 1. 8 Vel. dazu Kurt Krolop:,,Den Rang; der hier Diebold in der Hierarchie der Denunzianten und Brecht-Töter zugewiesen wird, kennzeichnet am besten eine Gegenüberstellung mit Alfred Kerr“. Der nach Österreich geflohene Brecht traf in Wien mit Karl Kraus zusammen. Vgl. Kurt Krolop: Bertolt Brecht und Karl Kraus a.a.O., 269ff. 9 Karl Kraus hatte Diebold 1932 einen Artikel gewidmet: Die Kultur im Dienste des Kaufmanns. Diebold. In: Die Fackel Nr. 873-875 (Mitte April 1932), 1-4. 10 Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Gesammelte Schriften Bd. IL.1 (Aufsätze, Essays, Vorträge). Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, 344. 11 Theaterkritiker war übrigens ein frühes Berufsziel von Karl Kraus. Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874-1918. Wien 1995, 61. 12 Zur Bedeutung Ullmanns vgl. Heinz Lunzer: Ludwig Ullmann im amerikanischen Exil. In: Eine schwierige Heimkehr. Österreichische Literatur im Exil 1918-1945. Hg. v. Johann Holzner, Sigurd Paul Scheichl u. Wolfgang Wiesmiiller. Innsbruck 1991, 353-371; Fritz Hausjell: Vertriebene Theaterkritik. Ludwig Ullmanns antinazistischer Kulturjournalismus Anfang der dreißiger Jahre. In medien & zeit. Kommunikation in Geschichte und Gegenwart. H. 3. 11. Jg. (1996), 32-49. 13 Günther Anders: Leben des Galilei. In: Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur. München 1984, 154.