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Vladimir Vertlib Die Rezension als literarischer Text Marcel Reich-Ranicki hat einmal in einem Gespräch mit Peter von Matt die Ansprüche, die heutzutage an einen „guten“ Rezensenten gestellt werden, zusammengefaßt: dieser solle nicht nur gut schreiben können und profunde Kenntnisse der Literatur mitbringen, sondern „über Kenntnisse der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie, der Ästhetik verfügen, und er muß auch die benachbarten Künste kennen ... in der Musik oder der Malerei wirklich Bescheid wissen.“ ! Der Literaturkritiker als Megaintellektueller, als der eigentliche ‚‚uomo universale“ der (Post-)Moderne? Derartiges behauptet nicht'einmal Reich-Ranicki: ‚Kein Kritiker kann all diesen Wünschen entsprechen, denn die Kunst ist groß und das Leben kurz.“ Und die Realität sieht ohnehin anders aus. Die oft freiberuflich tätigen, schlecht bezahlten und keineswegs immer umfassend gebildeten Rezensenten fertigen die ihnen von den Zeitungsredaktionen zur Besprechung zugesandten Bücher wie am Fließband ab. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem literarischen Text, dem Autor und der Thematik erfordert aber meist jene Zeit, die den gestreßten Kritikern fehlt. Sachliche Fehler und vorschnelle Einordnungen in Schemata sind die Folge. Das mit der Zeit immer geschulter werdende A uge des Kritikers läßt das routinemäßig vorschnelle Urteil zur Regel werden. So war ich nicht sonderlich erstaunt, als ich in den zahlreichen (meist positiven) Besprechungen zu meinem Buch Abschiebung unter anderem lesen mußte, die aus Riga stammende Familie des Protagonisten komme aus Estland (sic!), ich sei ein ,,russisch-jiidischer Autor“ (obwohl ich, zwar in Rußland geboren und jüdischer Herkunft, nachweislich deutsch schreibe und in Salzburg lebe), oder es handle sich bei meinem Text um rein autobiographische Prosa (was ich immer bestritten hatte). Entgegen der manchmal geäußerten Ansicht, der Literaturkritiker könne den Erfolg eines Buches zwar weder bewirken noch verhindern, jedoch beschleunigen oder verzögern, gilt es als erwiesen, daß eine Rezension den ‚Erfolg‘ des Buches nur sehr unwesentlich beeinflußt. Marktuntersuchungen zufolge tritt der gewünschte Effekt nicht einmal dann ein, wenn die Rezension in einer auflagenstarken Tageszeitung publiziert wird. Von ‚, Verzögerung“ oder „Beschleunigung“ kann nicht die Rede sein, es sei denn, die „Besprechung“ erfolgt in einer beliebten Showsendung im Fernsehen, wo anerkannte Großkritiker über meist ohnehin schon mit erheblichen Werbemitteln angepriesene „gut lesbare“ Neuerscheinungen großer Verlage diskutieren. Aus den genannten Gründen muß man die Möglichkeiten des Literaturkritikers und die Wirkung seiner Tätigkeit zwar nüchtern beurteilen, unterschätzen sollte man sie dennoch nicht. Eine Rezension kann dann eine wichtige Funktion erfüllen, wenn übliche Marktmechanismen versagen. Betrachtet man es beispielsweise als seine Aufgabe, wenig bekannte oder vergessene Autoren in das Bewußtsein einer zwar sehr kleinen, aber interessierten Öffentlichkeit zu rücken, so bietet sich die Rezension oder der literaturkritische Essay an. So habe ich vor eineinhalb Jahren das Buch Hexenprozeß in Tucumän und andere Chroniken aus der Neuen Welt” des in Österreich gebürtigen, aber seit seiner Vertreibung durch die Nazis in Argentinien lebenden Autors Alfredo Bauer für die Wiener Tageszeitung Die Presse rezensiert, mit der Überzeugung, dadurch einen wichtigen zeitgenössischen Autor einigen Lesern auch in seiner ursprünglichen Heimat bekannt gemacht zu haben. Ähnlich verhielt es sich, als ich wenig später Stella Rotenbergs Erzählband Ungewissen Ursprungs? für dieselbe Zeitung besprochen habe. Die in Wien geborene Stella Rotenberg mußte nach dem „Anschluß“ ebenfalls aus Österreich flüchten. Seit 1939 lebt sie in Großbritannien und ist hierzulande als Autorin — zu Unrecht — nur wenigen bekannt. Da ich Exil, Emigration und die Suche nach der eigenen Identität in einer fremden oder sich ständig verändernden Umgebung zu den wesentlichen existentiellen Erfahrungen unseres Jahrhunderts zähle, eine Erfahrung, die auch mir selbst nicht fremd ist, sehe ich es als meine Aufgabe an, auf die Werke von Autoren, die sich mit diesem wichtigen Thema jenseits gängiger Klischees auseinandersetzen, aufmerksam zu machen, auch wenn ich dabei nur einige wenige LeserInnen gewinnen kann. Und wenn ich die zu rezensierenden Bücher kritisch beurteile, hoffe ich, zumindest das Interesse einiger LeserInnen für das Thema an sich geweckt zu haben. Letzteres trifft zum Beispiel auf die erste von mir geschriebene Rezension zu, die im Herbst 1994 in der MdZ, publiziert wurde. Das von Peter Bettelheim und Michael Ley herausgegebene Buch Ist jetzt hier die „wahre“ Heimat? Ostjüdische Einwanderung nach Wien* „wird seinem Titel nicht gerecht‘, meinte ich damals. „‚Einige Beiträge sind nur mit großer Vorsicht zu genießen“. Das Thema war mir nah, bin ich doch selber ein jüdischer Zuwanderer, der die meisten Jahre seiner Kindheit und Jugend in Wien verbracht hat. Wo sich meine ,,wahre“ Heimat befindet, ist eine Frage, die auch ich mir bis heute stelle. Deshalb glaube ich, daß meine eigene Fremdheitserfahrung meinen Blick dahingehend geschärft hat, daß ich vielleicht kritischer und klarer als manch anderer stellt werden. „Die ... so einfachen und zugänglichen Texte“, schrieb ich in meiner Rezension von Stella Rotenbergs Erzählband, ‚‚entpuppen sich bei genauerem Durchlesen nur als Türen zu einem Labyrinth, das durch die Abgründe unserer Zeit und folglich auch unseres Inneren zu führen scheint. Wer imstande ist, in dieses Labyrinth vorzudringen, wird in Stella Rotenberg eine kompetente und verläßliche Wegbegleiterin finden.“ Kompetente Wegbegleiter von der Art einer Stella Rotenberg werden leider nur selten gelesen. Nach kompetenten Wegbegleitern suche aber auch ich als Rezensent und Leser gleichermaßen, nach jenen, die mir Türen zu einem inneren Labyrinth zu öffnen vermögen. Letztlich ist jede Rezension, die ich schreibe, für mich auch eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Klischees und eine Möglichkeit, über die eigenen Empfindungen nach der Lektüre eines Buches Rechenschaft abzulegen. Diese Form von Auseinandersetzung schriftlich zu fixieren, ist ein kreativer Prozeß, den ich als Teil meiner Tätigkeit als Autor ansche, einer Tätigkeit, die, vordergründig betrachtet, keinen Zweck hat, sondern einer inneren Notwendigkeit entspringt. Denn meiner Ansicht nach ist eine Rezension — wenn auch sicher nicht in allen Tällen - ein literarischer und kein journalistischer oder gar wissenschaftlicher Text. Ist das zu interpretierende Werk ein Sachbuch, kann der Rezensent noch auf inhaltliche Fehler hinweisen oder es nach bestimmten Kriterien zuordnen. Bei einem belletristischen Werk können die gewählten Kriterien jedoch nur sehr persönliche sein. Will die Rezension nicht zur reinen Inhaltsangabe verkommen, kann es nicht ihre Aufgabe sein, nur über ein Buch zu ,,informieren“ , sondern es zu beurtei13