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len. Ein Urteil aber, das Gesetzen folgt, die nicht allgemein verbindlich sind, setzt das Hinterfragen dieser Gesetze voraus. Jeder literarische Text ist, meiner Ansicht nach, unter anderem ein Aufstellen und In-Frage-Stellen von Gesetzen. Und so muß man, wie mir scheint, auch eine Rezension lesen, nämlich als literarischen Text zu einem literarischen Text, eine persönliche und kritische Auseinandersetzung mit einem Werk, die jedoch keine vermeintliche Objektivität vorzugaukeln versucht, keine „Wissenschaftlichkeit‘“ anstrebt, sondern die eigene Parteilichkeit, den subjektiven Geschmack und Standpunkt klarstellt. Es handelt sich demnach nur um eine der vielen Möglichkeiten, wie man an einen literarischen Text herangehen kann. Ich bin in Rußland geboren und in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen. Die russische Sprache ist mir emotionell auch heute noch näher als die deutsche. Als Jugendlicher habe ich, neben anderen Büchern, vor allem alte und moderne russische Klassiker gelesen. Sie alle aufzuzählen und ihre Bedeutung für meine literarische Geschmacksbildung aufzuzeigen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Erwähnen möchte ich hier, stellvertretend für viele andere, Gogol und seine Petersburger Erzählungen, Bulgakow und seine beiden Romane Die weiße Garde und Der Meister und Margarita, Lydia Tschukowskajas Ein leeres Haus, die Erzählungen von Tschechow, Kuprin und insbesondere jene von Isaak Babel, den ich für einen der größten Erzähler unseres Jahrhunderts halte. Möglicherweise haben die erwähnten Autoren mich am nachhaltigsten beeinflußt, denn bis heute schätze ich Gogols und Bulgakows hintergründige Skurrilität und Ironie, Babels knappen und bilderreichen Stil, Tschukowskajas Mut, im Leningrad des Jahres 1940 eine antistalinistische Erzählung zu schreiben, die den Terror der dreißiger Jahre zum Inhalt hat, Tschechows und Kuprins Facettenreichtum und meisterhafte Charakterisierungen... Gemeinsam ist allen genannten Autoren eine Ökonomie des Stils, die keinen Satz überflüssig erscheinen läßt, der Verzicht auf jegliches Pathos und eine mehr oder weniger offene Kritik der politischen und sozialen Zustände ihrer Zeit. Realistisches vermischt sich mit Phantastischem. Der eigene Standpunkt wird oft ironisch hinterfragt. Eine klare Zuordnung und Interpretation ist kaum möglich. Man kann diese Werke immer wieder und immer anders lesen. Eine Erzählung, die mich schon als Jugendlichen beeindruckt hat und die ich bis heute zu den besten Werken der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zähle, ist Nikolaj Gogols Taras Bulba. Der Autor schildert den Kampf ukrainischer Kosaken gegen die polnische Fremdherrschaft im 17. Jahrhundert. Zu Gogols nationalistischem Pathos gesellt sich in diesem Buch sein extremer Antisemitismus. Juden werden als geldgierige und feige Ausbeuter und als Handlanger der polnischen Grundherren beschrieben. Der Antisemitismus des von mir geschätzten russischen Klassikers hat mich immer sehr betroffen gemacht. Daß sich seine Erzählung Taras Bulba durch lebendige Dialoge, Sprachwitz und eine subtile Charakterisierung der (nichtjüdischen) handelnden Personen auszeichnet, kann ich trotzdem nicht bestreiten. Ich erachte es als legitim und notwendig, ein Buch im Kontext der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung und der literarischen Modeströmungen und Diskurse seiner Zeit zu betrachten. Ohne Zweifel wird dies mein Werturteil beeinflußen. Ich kann einen Text durchaus auch nur aus politischen und historischen Gründen für wichtig und nützlich halten und deshalb für seine Verbreitung eintreten. Dies ist meist eine rationale Entscheidung, begründbar durch meine Überzeugungen und somit voraussehbar. Denn die permanente Variabilität des literari14 schen Geschmacks läßt sich natürlich nicht analog auf andere (außerliterarische) Bereiche übertragen. Ein frauenfeindliches Buch, wie „glaubwürdig“ es auch geschrieben sein mag, wird mich trotzdem nicht zum Frauenfeind machen. Was aber einen Text für mich künstlerisch wertvoll macht, ist die Folge eines inneren Prozesses. Und so komme ich manchmal — fiir mich selbst überraschend — zu Urteilen, die meinen vermeintlich deutlichen literarischen Vorlieben klar widersprechen. Anmerkungen 1 Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt. Frankfurt/Main. 1992, 91. 2 Alfredo Bauer: Hexenprozeß in Tucumän und andere Chroniken aus der Neuen Welt. Hg. von Erich Hackl. Wien 1996. — Rezension in: Die Presse. Spectrum. Wien, 25./26. 1. 1997. 3 Stella Rotenberg: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa, Hg. und mit einem Nachwort versehen von Siglinde Bolbecher. Wien 1997. — Rezension in: Die Presse. Spectrum. Wien, 19./20.7.1997 (,, Wegbegleiterin im Labyrinth“). 4 Peter Bettelheim/Michael Ley (Hg.): Ist jetzt hier die ,, wahre“ Heimat? Ostjüdische Einwanderung nach Wien. Wien 1993. — Rezension in: MdZ 11 (1994) 2, 35-37. 15 Jahre persona verlag Seit 1984 fiihrt Lisette Buchholz in Mannhein den ,,persona verlag“; begonnen wurde mit Werken zweier österreichischer Exilantinnen: ,,Manja“ von Anna Gmeyner und „Die Ehe der Ruth Gompertz“ von Lili Körber. Es folgten Bücher von Elisabeth Freundlich, Walter Fischer, Dosio Koffler, Elisabeth Augustin, Arno Reinfrank, Bruno Adler, Hazel Rosenstrauch, Alexander Sacher-Masoch, Anna Rheinsberg, Kirsti Paltto, Walter Mehring u.a., insgesamt 28. Alle Bücher sind, zum Teil in zweiter und dritter Auflage, nach wie vor lieferbar. Der größte Erfolg war Ruth Berlaus Erzählband ‚Jedes Tier kann es“. Eben erst ist als neuester Band Günther Elbins Bericht über Moriz Seeler ‚Am Sonntag in die Matinee“ herausgekommen. .», Vom Biichermachen“, schreibt Lisette Buchholz, ,,hate ich keine Ahnung. Mein Enthusiasmus war von Sachkenntnis ungetrübt, obwohl zu meinen Vorfahren zwei erfolgreiche Verleger gehören ... [...] Die Verlagsarbeit mache ich aus Kostengründen nach wie vor allein.“ Sie vergißt aber nicht, die Freundinnen und Freunde zu erwähnen, die ihr immer wieder geholfen haben, sei es beim Kuvertieren der Aussendungen, sei es bei der Gestaltung der Bücher. „Der Verlag“, bekennt Buchholz ein, ‚befindet sich in einer permanenten Finanzkrise, die sich in heftigen Stimmungsschwankungen spiegelt.“ Und sie dankt den Käuferinnen und Käufern, aber auch denen, die die Bücher des Verlags in der Öffentlichkeit vorstellen - es sind „meist die freien MitarbeiterInnen der Medien“, die das tun. Die Redaktion MdZ kann Lisette Buchholz und ihrem Verlag, der wichtige Werke Exilierter und Verfolgter dem Vergessen entrissen hat, nur eine erfolgreiche Weiterarbeit wünschen (und endlich auch einmal eine Förderung durch öffentliche Stellen der Bundesrepublik, wo Kultur vom Staat, wie uns oft scheint, nur im Stil eines feudalen Landesherren gefördert wird). Und eine Frage dürfen wir stellen: ,,Wann, Lisette, erscheint bei dir der erste Lyrik-Band?“