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mit lustigen, unschuldigen, grauen Glubschaugen — hatte im Fahrstuhl die auf Deinem Arm eintätowierte KZ-Nummer gesehen und das Bewußtsein verloren. „Ich habe davon gelesen“, sagte sie später, „jetzt habe ich es gesehen. Haben das die Menschen gemacht, die mit Mutti Abendbrot aßen?“ Wir saßen in Deinem winzigen BBC-Büro und sprachen darüber, ich weiß nicht mehr was. Plötzlich sagtest Du: Ich darf nicht daran denken, was alles ich tun mußte, um am Leben zu bleiben. Das war vor fünfzig Jahren. Ich versuchte lange Zeit, Worte dafür zu finden, wie Deine Stimme klang, wie Dein Gesicht aussah, Deine Augen. Sie waren nicht auf uns gerichtet, auch nicht in Dich hinein, irgendwohin in eine Welt, die Dir in diesem Augenblick wohl besonders leer und eisig erschien. Vielleicht war es nicht ganz genau so, wie ich es jetzt beschreibe. Vielleicht projiziere ich jetzt ein Bild in die Vergangenheit, das meine Erinnerung in den langen Jahren aus vielen Quellen formte, aus Emotionen und Ressentiments, Erfahrungen, Feindbildern und moralischer Selbstverpflichtung, und ich werde niemals wissen, wie Du wirklich ausgesehen hast. Aber Deine Stimme konnte ich einfangen. Es gab im BBC-Archiv noch die Schallplattenaufnahme Deiner Aussage nach der Befreiung von Belsen, den kalten nüchternen Bericht aus der Nacht: „Ich heiße Renate Lasker, ich bin KZ-Nummer . . . “ So endete mein Romanprojekt iiber Dich. Ich darf nicht daran denken..., sagtest Du. Ich hätte es nie zuwege gebracht, Dich auszufragen, auch wenn ich keine Zweifel an meinem Gestaltungsvermögen gehabt hätte. Ich hätte alles, was Du sagtest, mit den Augen meines toten Bruders gesehen, mit dem Hunger und der Hoffnungslosigkeit meiner umgekommenen Freunde gefühlt. Das ist nun schon sehr lange her. Es ist viel über Erinnern und Vergessen geschrieben worden, über Verdrängen, Leugnen und Bagatellisieren. Die Täter und auch die Opfer, die Überlebenden und die Nachfolgegeneration haben das Unmögliche versucht: irgendwie — „normal“ sagen sie meist - in der Welt zu leben, in Versuch eine Lüge, eine Flucht aus dem Unvermögen oder Unwillen, das Geschehene in die Vorstellung einzuordnen, die Menschen sich von der Welt und von sich selbst machen. ‚Ich bin unschuldig schuldig geworden“, sagen sie; oder: „Nach Auschwitz kann man kein Gedicht mehr schreiben“; „Die Lager waren ein grauenhafter Sündenfall der Geschichte, aber nicht ihr wahrer Sinn“; „Es ist berechtigt, den Holocaust in den Geschichtsbüchern zu begraben, damit er unsere Kinder nicht belastet‘“. Sie sagen „‚Unsere Kinder“ , aber meinen sich selbst. Es gibt Menschen, die die Opfer auf eine verquere Weise um ihr Leid beneiden. Als ob gelitten zu haben, eine Gloriole verleiht, Verinnerlichung gewährt. „‚Leidensneid“ ist kein Nach-AuschwitzPhänomen. Es hat ihn auch in früheren Zeiten gegeben, in der Anbetung von und Identifizierung mit religiösen Märtyrern, z.B. Er kann einem tief empfundenen Mitgefühl entspringen, dem Schuldempfinden eines vom Grauen Verschonten. Auch einer demütigen Hoffnung, dazu beizutragen, daß es niemals wiederkommen kann. Aber es gibt auch welche, die sich mit fadenscheinigen Argumenten als Opfer darstellen, weil sie damit einen Glanz zu gewinnen glauben, den ihr Leben sonst nicht besitzt. Als ob man Bedeutung allein damit gewinnen kann, Leiden überstanden zu haben. Erlittene Grausamkeit kann Menschen sowohl besser wie schlechter machen, zu Heiligen oder zu Hassern. Ganz sicher macht sie sie nicht zum Normalmenschen, was immer das sein mag. Obwohl ich selbst nicht im herkömmlichen Sinn normal sein möchte — das hat für mich zu viele spießige, abwegige, muckerige und konformistische Assoziationen — halte ich die Sehnsucht nach Normalität und, im Zusammenhang mit unserer unseligen Vergangenheit, die Flucht aus dem Unbewältigbaren nicht immer für unehrenhaft. Ich erzähle meinen Enkelsöhnen nicht, unter welchen grausamen Umständen meine Mutter starb. In ihrem Leben gibt es auch ohne dieses Wissen genug existentielle Bedrohungen, die es ihnen in ihrer Empfindsamkeit schwer machen, aufrecht zu gehen. Aber ich komme mit dieser Rechtfertigung von Verdrängen und Vergessen nicht ganz zurecht. Der Brunnen der Vergangenheit speist unsere Zukunft, schreibe ich seit Jahren. Wir müssen versuchen aus der Geschichte zu lernen, auch wenn es aussichtslos erscheint, Menschen, die sich von der Geschichte bedroht fühlen, für so ein Unterfangen zu gewinnen. Wenn ich das auf dem Rednerpult ins Mikrophon sage, die Saalwände meine Worte zurückwerfen, fühle ich manchmal mit Entsetzen, daß ich predige. Ich möchte es nüchtern und bescheiden sagen, wie ich es für jedes Argument als richtig halte, und auch, weil ich selbst ja fliehe und verdränge. Aber seitdem der Buchdruck und der Lautsprecher erfunden wurden, ist es schwierig geworden, Worte nüchtern und bescheiden zu gebrauchen. Die unendliche Leichtigkeit, mit der sie verstärkt und verbreitet werden können, macht selbst ein stilles Gebet zu einem Lautsprecheraufruf, das Einmaleins zu einer Hetzschrift für Vernunft. Liebe Renate, ich kann das Buch Deiner Schwester nichtlesen, weil mich jede Seite daran erinnern würde, was ich nicht erinnern will. Daß ich nicht in einem Lager war und den Holocaust nur als Emigrant, aber auch als freiwilliger Soldat gegen Hitler überlebte, verursacht mir keinen Leidensneid. Ich brauche nicht dieses vergeistigte Symptom einer vergeblichen Bemühung, die Nacht abzustreifen, durch die wir gingen. Ich habe das Recht, wegzulaufen, auch wenn ich es anderen abspreche. Die Lumpen, Gauner und Verbrecher, denen es nicht gelang, die Juden zu vernichten; in Deutschland zu zerstören, was gut und erhaltenswert ist; Völkermord als Norm für das Verhalten der Welt durchzusetzen, haben selbstverständlich keinen Anspruch auf dieses Recht. Wir dürfen sie niemals zur Ruhe kommen lassen. Aber ich, meine Kinder und meine Freunde haben die Ruhe und den Frieden jenseits des Holocaust verdient. Wenn wir, um sie zu erreichen, das Buch Deiner Schwester nicht lesen, sei uns verziehen, daß wir entweichen. Die Flucht, die wir 1933 begannen, wird für unsere Generation erst zu Ende sein, wenn sie nicht mehr ist. In aller Liebe Fritz Die Adressatin des Briefes, Renate Harpprecht-Lasker, Nichte des Schachweltmeisters Emanuel Lasker, wurde mit ihrer Schwester Anita wegen ihrer illegalen Hilfe für französische Zwangsarbeiter in ihrer Vaterstadt Breslau zu Zuchthaus verurteilt. 1943 wurden sie ins KZ Auschwitz, 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Nach ihrer Befreiung arbeitete Renate Lasker u.a. als Sprecherin und Feuilleton-Mitarbeiterin der deutschen Sendungen der BBC in London. Sie ist Autorin eines Romans und lebt mit ihrem Mann, Klaus Harpprecht, Autor u.a. einer großen kritischen Thomas Mann-Biographie, in Südfrankreich. Anita Lasker-Wallfisch war Cellistin in dem eigenartig berühmten „Mädchenorchester“ des Lagers Auschwitz. Ihre Lebenserinnerungen „Ihr sollt die Wahrheit erben“ erschienen 1997 im Weidle Verlag, Bonn. Beide Schwestern wurden von der französischen Regierung mit dem Croix d’Honneur ausgezeichnet. Der Autor des Briefes ist Präsident des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und lebt in London. 17