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Erich Hackl Mein Freund Pieter Was ist ein „Anderer Deutscher‘? Einer, der auf seine alten Tage (aber mit jungem Herzen) die Verhältnisse im eigenen Land mit Grimm beobachtet. Oder ein zweiter, der — riickblickend auf ein langes Leben-— den Verdacht nicht loswird, seine Zeit im falschen Land, unter den falschen Leuten verplempert zu haben. Oder ein dritter, der nach der Rückkehr aus dem Exil für jenes Deutschland optiert, das er für das bessere ansieht, und zu spät merkt, daß es ihm seine Entwicklungsmöglichkeiten raubt. Oder ein vierter, der aus Nazideutschland flieht, weil es für die Anderen Deutschen nur KZ und Schafott bereithält. Oder ein fünfter, der dem ‚Anderen Deutschland“ angehört hat, jenem Bündnis von Exilierten, die sich um die gleichnamige Zeitschrift in Buenos Aires scharten. Oder ein sechster, der einem Geschlecht wahrhaft Anderer Deutscher entstammt, die sich schon in der Weimarer Republik dem Kampf gegen die Verpreussung Deutschlands verschrieben hatten. Oder... Auf meinen Freund Pieter Siemsen, der seine „Erinnerungen eines Anderen Deutschen“ in den letzten Jahren unter sehr großen Anstrengungen — gequält und behindert von vielerlei Krankheiten — zu Papier gebracht hat, treffen all diese Beschreibungen zu. Am 17. Juni 1914 in Osnabrück geboren, ist er in einer Familie aufgewachsen, in der sich Wissensdurst, Glaube an die Vernunft und Wille zu gesellschaftlichen Reformen mit politischem, publizistischem und literarischem Können trafen. Sein Onkel Hans Siemsen, Mitarbeiter an Ossietzkys ,,Weltbiihne“ und Schriftsteller (seine Biicher erschienen bei Kurt Wolff, Rowohlt, DVA), schrieb berührend zarte Erzählungen und Prosaskizzen über kleine Leute und gesellschaftliche Randgruppen, seine Tante Anna Siemsen — „eine der drei klügsten Frauen Europas“, nach Tucholsky — war als sozialistische Pädagogin, Schriftstellerin und Politikerin ebenso bedeutend wie Pieters Vater August - beide gehörten der SPD bzw. der USPD an, waren Reichstagsäbgeordnete und Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei. Es ist mir unbegreiflich, weshalb alle drei Geschwister in einer Zeit, die so sehr auf W iederentdeckungen aus ist, trotz Pieters Bemühungen weitgehend vergessen sind. Daß sie politisch wie lebensgeschichtlich zwischen allen Stühlen zu sitzen kamen, vor den Nazis ins Schweizer, US-amerikanische und argentinische Exil flüchten mußten und nach dem Krieg weder in der BRD (wo sich Hans und Anna niedergelassen haben) noch in der DDR (wohin August übersiedelt ist) wahrgenommen wurden, begründet die Ignoranz nicht hinlänglich. Es bedarf immer des Zufalls, damit es zwischen Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Alters zu einer Begegnung und Verständigung über gemeinsame Lebensfragen kommt. So stand der Freundschaft zwischen Pieter und mir, vor nunmehr zwölf Jahren, das ‚‚Spanische Bilderbuch“ seiner Tante Anna Pate, das mit dem Aufruf schließt: ,,Habt Erbarmen mit euch selbst!“ Wir stritten — auf dem Briefweg zuerst, dann am gemeinsamen Tisch, bei Rotwein und Oliven — über den Terminus „Spanischer Bürgerkrieg“, über den sogenannten Realen Sozialismus, über Kuba und die Menschenrechte, über die Todeswolke von Tschernobyl. Aber noch während wir stritten, waren wir einander schon Freund und Bruder. Müßte ich ihn charakterisieren, ich würde nach zwei großen literarischen Gestalten greifen, die er sich als Homonyme auch einverleibt: Don Quijote und Martin Fierro. Scharfsinnig, wahrheitsliebend, gastfreundlich, fremden wie eigenen Vorzügen und Schwächen auf der 18° Spur, jederzeit bereit, sich zur nächsten Schlacht gegen Windmühlen und/oder Riesen zu rüsten. Pieter ist in Essen, Jena und Berlin aufgewachsen, wo er von 1931 bis 1933 die Karl Marx-Schule in Neukölln besuchte. Sein Vater floh unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme in die Schweiz, bald darauf folgten ihm seine Frau Christa und Pieter. Aber im Herbst 1934 wurde Pieter wegen „Belastung des Schweizerischen Arbeitsmarktes“ nach Deutschland ausgewiesen, dort zum Arbeitsdienst, dann zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen. Inzwischen waren auch seine Eltern aus der Schweiz ausgewiesen worden, hatten aber nach Argentinien emigrieren können, wo August Siemsen an der antifaschistischen Pestalozzischule unterrichtete und ‚Das Andere Deutschland“ gründete. Im Oktober 1937 gelang auch Pieter - über Vermittlung eines hohen Beamten der Militärjustiz — die Ausreise nach Argentinien. Hier setzt, zeitlich gesehen, der Auszug aus seinen bislang unveröffentlichten Erinnerungen ein. Argentinien — das beweist der Text zur Genüge — wurde für Pieter nicht nur in politischer, sondern auch in persönlicher Hinsicht prägend. Er hat seinen Entschluß, Anfang der fünfziger Jahre nach Deutschland zurückzukehren (in die DDR, die er für das bessere Deutschland hielt), oft bereut — in Ostberlin, wo er seit 1954 lebt, mußte er seine Begabung und seine Kräfte in Scharmützeln mit der ,,Notgemeinschaft der Unfähigen“ verausgaben, allerdings verdankt er seiner Fehlentscheidung die Liebe zu Lilly Heyde, einer gütigen, in ihrer Güte unbestechlichen, großzügigen Frau, die ihn bis heute auffängt und am Leben erhält. Es gibt auch eine Reihe von Menschen, die ärmer an Erfahrung wären, gäbe es ihn nicht, und die ihm ihre Zuneigung spüren lassen. Pieter ist nicht der einzige Antifaschist, der sich um sein Leben betrogen wähnt. Das weiß er auch. Aber daer nicht zur Sentimentalität neigt, die sich am kleineren Übel mästet, wird er mir wohl mit einem spanischen Sprichwort antworten: Mal de muchos, consuelo de tontos. ,,Da es vielen schlecht geht, ist nur den Dummen ein Trost.“