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Pieter Siemsen Aus den Erinnerungen eines Anderen Deutschen Kurs nach Argentinien Nachdem ich durch einen glücklichen Zufall das Visum für Argentinien erhalten hatte, waren die Voraussetzungen für die Überfahrt sehr günstig und die Reise selbst angenehm. Meine Familie, die Siemsens, kommt ursprünglich aus der Hamburger Bürgeraristokratie, genauer gesagt waren meine Vorfahren Schiffsreeder und Senatoren der Hansestadt. Über diese familiären Beziehungen bekam ich von der Deutsch-Südamerika-Linie, einer Schiffahrtsgesellschaft, eine Gratisüberfahrt. Ich reiste in der Kabine des Spanischen Kommissars oben auf dem Kapitänsdeck. Damals war Spanien vom sogenannten Bürgerkrieg beherrscht, die Schiffe legten dort nicht an. Dadurch war die Kabine frei, und ich konnte, geschützt vom Kapitän, die Fahrt antreten. Die Überfahrt ging von Hamburg aus. Als wir auf das Schiff gingen, wurde ausgerechnet ich vom Zoll herausgegriffen und von einem ehemaligen Wehrmachtsangehörigen gefilzt. Alles wurde durchsucht, und ich mußte mich sogar nackt ausziehen. Die Devisenbestimmungen des Dritten Reiches besagten, daß man insgesamt nur 10,- RM ausführen durfte. Ich hatte glücklicherweise nicht mehr bei mir. Als er mich durchsucht hatte, fragte der Zöllner: „Was haben Sie eigentlich bisher gemacht?“ ‚‚Ich habe gedient‘, sagte ich, ‚ich war bei der Wehrmacht und habe bis jetzt meine Militärdienstzeit abgeleistet.‘“ Darauf erwiderte er: „Kamerad, warum haben Sie das nicht eher gesagt?“ Dann konnte ich endlich auf’s Schiff gehen. Die mitreisenden Passagiere waren eine sehr bunte Mischung: Argentinier, die nach einem Deutschland-Besuch zurückfuhren, Deutsche, die im Auftrag einer Bank oder Firma unterwegs waren, und natürlich jüdische Emigranten. Sobald das Schiff abgelegt hatte, machte ich aus meiner antinazistischen Überzeugung kein Hehl mehr. Mit einigen argentinischen Passagieren führte ich interessante Gespräche. Ich konnte ihnen zum Teil Dinge über die Zustände in Deutschland vermitteln, die sie als Reisende so nicht wahrgenommen hatten, und einige waren sehr offen und interessiert. Einen der argentinischen Passagiere, einen Frauenarzt, traf ich später in Buenos Aires noch öfter. Die jüdischen Emigranten hielten sich eher fern, wenn ich in Gesprächen über die Nazis und die Zustände in Deutschland die Wahrheit sagte. Sie waren sehr vorsichtig und hätten sich auf ein politisches Gespräch sicher nicht eingelassen. Ihnen war mein Auftreten wahrscheinlich suspekt, vielleicht dachten sie sogar, ich sei ein Nazi-Spitzel. Von den jüdischen Emigranten, die auf dem Schiff waren, begegnete ich später in Buenos Aires verschiedenen wieder, z.B. bei Aufführungen des Kabaretts ‚‚Truppe 38“. Da hat man dann natürlich anders reden können. Aus heutiger Sicht muß ich sagen, daß ich damals ein bißchen blöd, zumindest naiv war, denn ich war ja auf dem Schiff letztlich noch auf deutschem Boden. Man hätte mich nicht von Bord lassen und wieder zurückschicken können, selbst wenn ich unter dem Schutz des Kapitäns stand. Meine Haltung hatte nichts mit Mut zu tun, sondern war tatsächlich einfach nur leichtsinnig. Das wurde mir übrigens noch während der Reise bewußt. Unsere erste Anlegestelle auf dem amerikanischen Kontinent war die brasilianische Hafenstadt Santos. An einem Kiosk wurden Zeitungen aus verschiedenen südamerikanischen Ländern verkauft, u.a. die „Critica‘“ , ein fortschrittliches argentinisches Boulevardblatt, mit dem wir später in Argentinien zusammengearbeitet haben. Als wir dort standen, zeigte der Dritte Offizier unseres Schiffes, NSDAP-Beauftragter an Bord, auf die „‚Critica“ und sagte: „‚Das ist ein Hetzblatt, ein iibles Hetzblatt!“ Darauf fragte ich — ohne die Zeitung zu kennen — ,,So etwas wie der ‘Vélkische Beobachter’ bei uns?“ Der Offizier schaute mich an und sagte drohend: „Seien Sie vorsichtig, noch sind Sie nicht in Argentinien...‘ Schlagartig wurde mir klar, in welcher Gefahr ich mich befand. Dieser Offizier hätte mich vielleicht gar nicht aussteigen lassen, sondern nach Deutschland zurückgebracht, aber der Schutz des Kapitäns war wohl 1937 letztlich noch ausschlaggebend, so daß er nichts gegen mich unternahm. Er wollte bei der Gesellschaft in gutem Ansehen stehen, und Hamburg war für die Nazis damals noch ein „heißes Pflaster“. Ich hatte also großes Glück mit meinem törichten Verhalten. Das Schiff kam nachts im Hafen von Buenos Aires an. Als ich morgens aufwachte, sah ich die großartige Silhouette der Stadt vor mir. Beim Gang von Bord wurde ich herausgewunken und durchsucht, aber es war alles in Ordnung. Am Hafen wurde ich von meinen Eltern empfangen. In Buenos Aires So stand ich nun 23jährig in der Hauptstadt Argentiniens, in einem Land, das ich nur aus den Briefen meiner Eltern kannte. Buenos A ires war schon damals eine sehr große Stadt, seit Jahrzehnten Ankunftshafen für Einwanderer aus der ganzen Welt, die in Argentinien auf einen neuen Anfang hofften. Waren es bis Mitte der dreißiger Jahre vor allem Auswanderer, die aus freiem Entschluß in dieses Land kamen, handelte es sich nun zunehmend um rassisch und politisch verfolgte Flüchtlinge aus Nazideutschland. In den folgenden Jahren, als fast ganz Europa von den Nazitruppen besetzt war, sollten noch viele Flüchtlinge kommen, die 1937 noch nicht einmal daran dachten, daß sie einmal außer Landes gehen würden. Es stellte sich mir nun die Frage, was ich in Argentinien anfangen sollte. Eine Ausbildung zu machen oder gar ein Studium zu beginnen, war nicht möglich. Dazu hatte ich weder das Geld, noch sprach ich zu Anfang die Landessprache Spanisch. Meine Eltern hätten mich auch nicht unterhalten können, denn als Lehrer an der Pestalozzischule verdiente mein Vater gerade das Nötigste, um über die Runden zu kommen. Aber immerhin konnte ich bei meinen Eltern, in Florida, einem schon in der Provinz gelegenen Stadtteil von Buenos Aires, wohnen. Ich war noch nicht lange in Argentinien, da wurde ich aus Deutschland ausgebürgert, und zwar mit deutscher Gründlichkeit gleich zweimal: einmal als Sohn meines Vaters und noch einmal „in eigener Sache“. Das Vorspiel für das zweite Mal war, daß ich 1939, bei Kriegsbeginn, von der deutschen Botschaft in Buenos Aires aufgefordert wurde, mich zu melden. Ich bin natürlich nicht hingegangen, denn in der Botschaft hätte ich mich auf deutschem Boden befunden. Dort hätten sie mich festhalten können. Als ich mehrmaligen Vorladungen nicht folgte, schickten sie mir meine zweite Ausbürgerungsurkunde. In den ersten Tagen und Wochen in Buenos Aires wurde ich durch meine Eltern in die Emigrantenkreise eingeführt. Über diese Beziehungen fand ich schnell Arbeit bei Heinrich Bertsky, einem deutschen Emigranten, der zusammen mit einem Geldgeber ein Unternehmen in der Heizungsbranche eröffnet hatte. Bei ihm begann ich als Peön, d.h. als ungelernter Arbeiter, für 65 19