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dem Arbeitervorort Avellaneda. Ich war für das kleine Platense aus meiner Wohngegend und für Independiente, das zu den „Großen Fünf“ gehörte, weil dessen Spieler wegen der roten Trikots Los Diablos Rojos (Die Roten Teufel), genannt wurden. Meine Farbe! Bei den Debatten über Fußball konnte aus den Männern, die zuvor Streithähne waren, plötzlich die besten Freunde werden und umgekehrt. Wenn wir zum Beispiel Gewerkschaftsversammlung hatten bei den Grafikern, ging es immer sehr heftig zu. Es gab verschiedene Positionen, und mitunter gerieten sich die Kollegen ganz schön in die Wolle. Später gingen wir noch in ein Caf& nebenan, und da waren die Gegner von vorhin plötzlich in trauter Eintracht zusammen, weil sie für denselben Fußballklub waren. So etwas hat mir in Argentinien überhaupt imponiert. Die Fronten waren nie so starr wie in Deutschland. Wenn in Deutschland einer Sozialist war und ein anderer Aktivist einer anderen Partei, dann waren die auch sonst nicht zusammen, sondern grenzten sich sogar privat voneinander ab. Das war damals in Argentinien sehr viel lockerer. Ich fand es immer toll, daß es möglich war, mit allen möglichen Leuten ins Gespräch zu kommen. Nach einiger Zeit als Hilfsarbeiter in der Firma Bertskys hatte ich die Möglichkeit, in einer Druckerei als Maschinensetzer zu arbeiten. Es war der Betrieb von Doktor Alemann, dem Herausgeber des „‚Argentinischen Tageblattes“. Die Familie Alemann war eine liberale, sehr wohlhabende Familie. Er hatte Schweizer Vorfahren, die Frau entstammte, soviel ich weiß, der argentinischen Agraroligarchie. Vor 1933 war das Tageblatt ziemlich unbedeutend gewesen, die größere deutschsprachige Zeitung in Argentinien war die „Deutsche La Plata Zeitung“ , zunächst deutschnational und nach der Machtübernahme durch die Nazis ein gleichgeschaltetes NSOrgan. Das ,,Argentinische Tageblatt“ behielt auch nach 1933 seine liberale Linie bei und wurde so die Zeitung, die von den immer zahlreicher werdenden Emigranten gelesen wurde. Unter ihnen, es waren ja Zehntausende, fand sie ihr Publikum und wurde zu einer vielgelesenen und beachteten Publikation. Um meine Beziehung zum ‚‚Argentinischen Tageblatt‘ darzustellen, möchte ich folgendes sagen: es war zuerst einmal unser Sprachrohr. In der Druckerei des Tageblatts wurden auch ‚Das Andere Deutschland“ und unsere sonstigen Veröffentlichungen gedruckt. Es war somit eine wichtige Institution für unsere publizistische Tätigkeit. Darauf waren wir angewiesen. Politisch war das Tageblatt ein Alliierter des Anderen Deutschland, während des Krieges gehörte es zur Anti-Hitler-Koalition. Obgleich unser politischer Verbündeter, war das Tageblatt aus gewerkschaftlicher Sicht ein feindliches Unternehmen. Eines Tages, es muß 1940 oder 1941 gewesen sein, beschloß die Gewerkschaft einen Streik gegen die Druckerei Alemann und das „Argentinische Tageblatt“. Ich warnte damals die Kollegen von der Gewerkschaftsführung, weil ich der Meinung war, daß es keinen Sinn hatte einen Streik auszurufen, der mit Sicherheit nicht ausreichend befolgt werden würde. Trotzdem hielt die Gewerkschaft an dem Streikaufruf fest. Es kam, wie es kommen mußte. Nur zwei Mitglieder der Belegschaft befolgten den Streikaufruf: ein anderer Kollege und ich. Wir wußten, daß es schiefgehen würde, und wir wußten auch, daß wir unsere Arbeit verlieren würden. Wir hatten vorher noch Flugblätter verfaßt und versuchten Verständnis für den Streik zu mobilisieren. Aber das war von vornherein völlig sinnlos. Ich hätte mich jedoch schwer dagegen wehren können. Ich hätte höchstens sagen können, ich selbst mache nicht mit. Das wäre vielleicht richtig gewesen, aber ich LA O7RA ALEMANIA “{ORGANO DE LOS ALEMANES DEM OCRATICOS DE AMERICA DEL SUR) ARO VH No. 94 MAYO 15 DE 1945 BUENOS AIRES TUCUMAN 309 Ur RETIER O — 1206 AUS DEM INHALT: Jod Venerm: Lo que mo debemes etvidar Haretd J. Labki: Der Friede, für den |i wir kämpfen . zen Carl Döbbeling: Was sol: nach Hither kommen? Cort Bestvater: Die Stunde Ces An. Waldermar Ossowski: Die Knechischaft hat ein Ende ‘Witt Karbaum: Macht nicht halt vor dea Schlössern ‘Wri Keller: Der Kampf bez ont Curt Pabian: Votes Christa Springmann: Aufzabe der Frauen hi FRANQUEO PAGADO (San Martin) CONCESION No. 3096 Clement Moreau: Titelblatt für „Das Andere Deutschland“, 1943 fühlte mich verpflichtet, im Sinne des Internationalismus, der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaft in Argentinien die Treue zu halten. Im nachhinein würde ich sagen, daß mein Verhalten nicht den Gegebenheiten entsprach, weil der Streik ganz und gar ins Leere lief und wir im Kampf gegen die Nazis mit dem „Argentinischen Tageblatt“ liiert waren. Auf jeden Fall flog ich wegen des Streiks beim ,,Argentinischen Tageblatt“ raus. Als ich 50 Jahre später, bei einem Besuch in Argentinien, die Druckerei besuchen wollte, wurde mir vom jetzigen Chef kleinkariert das Betreten der Räume untersagt, weil ich einst gegen das Unternehmen gestreikt hatte. Das Tageblatt erscheint ja heute immer noch einmal in der Woche unter gleichem Namen. Heute hat es sich auch politisch sehr nach rechts entwickelt, allerdings mit großem demokratischen Spektrum. Auch politisch engagierte sich die Familie Alemann später für die Rechte: Sie kollaborierte mit der Militärdiktatur, die 1976 bis 1983 in Argentinien mit brutaler Gewalt regierte. Arbeiter der Nacht In der Nähe von Alemanns Druckerei war ein Viertel mit Nachtlokalen, Bars und A nimierkneipen. Die Frauen, die dort arbeiteten, wurden mitunter als ‚‚Arbeiterinnen der Nacht“ bezeichnet. Als Setzer bei einer Tageszeitung war ich in gewisser Weise auch ein „Arbeiter der Nacht‘, und so bekamen wir im Laufe der Zeit miteinander zu tun. Nach Fertigstellung der Zeitung war es oft schon sehr spät, und ich bekam den letzten Zug nach Florida nicht mehr. Das bedeutete, ich mußte die Nacht im Stadtzentrum verbringen. So bin ich dann auch manchmal in diese Lokale gegangen, „Dancings “ war ihre Bezeichnung. Interessanterweise spra21