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Maria Leitner Frauen im Sturm der Zeit: Fräulein Hase, eine Sekretärin, in Ehren ergraut Fräulein Hase ist noch nicht alt, trotz einiger grauer Haarsträhnen, die sie sich teils aus Ehrlichkeit, teils aus Geldmangel nicht färben läßt. Aber was ist nicht alt, heute, im Zeitalter ewiger Jugend? Die mondäne Sechzigjährige, die ihre Tage mit Hilfe eines dicken Geldbeutels im Schönheitssalon verbringt, hört sicher das Wort „alt“ nicht. Aber den Arbeitsuchenden wird es immer wieder entgegengeschleudert, auch den Dreißigjährigen, ja, auch schon mit fünfundzwanzig Jahren ist eine Stenotypistin oft ,,zu alt“. Fräulein Hase hört auf ihren Kreuzfahrten um eine Stellung das Wortchen ,,alt‘ so oft, daß sie ihre überflüssige Persönlichkeit am liebsten einem Sarg überantwortet hätte. Nur war sie auch eine Tochter und in dieser Eigenschaft nicht überflüssig, denn sie hatte ihre Mutter zu erhalten. Immer hatte sie ihren Beruf mit einem gewissen Widerwillen ausgeübt, aber sie war überzeugt, daß niemand sie an Fleiß und Pünktlichkeit übertraf, obgleich sie sich zu etwas Höherem berufen fühlte... Sie begann fünfzehnjährig, noch in den „guten alten Zeiten“ vor dem Kriege, ihre Laufbahn. Sie arbeitete zehn, zwölf Stunden, aber auch als der Achtstundentag schon eingeführt wurde, fand sie es natürlich, Überstunden zu machen ohne auf besondere Bezahlung zu drängen. Ihre Nerven aber nützten sich schnell ab. Ihr in Kriegsjahren und in der Inflationszeit schlecht genährter Körper verlor die Widerstandskraft, sie konnte dem ständig steigenden Arbeitstempo nur mit aller Anstrengung folgen. Da werden im Büro „technische Neuerungen“ eingeführt, sie bestehen aus nichts anderem als aus einer genauen Berechnung der Leistungsfähigkeit. Die jüngeren Kräfte, die eben erst anfangen und noch nicht so abgearbeitet und abgenützt sind, übertreffen trotz ihres Mangels an Erfahrung Fräulein Hases Leistungen. Dank ihrer langjährigen Tätigkeit hat sie eine günstige Kündigungsfrist, aber eine allgemein eingeführte Rationalisierungsmaßnahme hebt diese Begünstigungen mechanisch auf: „Die schlechte und ungewisse wirtschaftliche Lage zwingt uns, Ihre Stellung zur gesetzlichen Frist zu kündigen. Sollte sich dennoch eine Möglichkeit zur Weiterführung unseres Betriebes finden, käme ihre Weiterbeschäftigung in Frage.“ Fräulein Hase weiß nicht, wie sie das auslegen soll. Von ihrem Gehalt, das kaum für einen reichte, lebten sie zwei. Die Pension ihrer Mutter, der Witwe eines kleinen Beamten, schrumpfte von Monat zu Monat zusammen. Die Ungewißheit, die über der Zukunft lastete, trug nicht dazu bei, ihren Zügen die bei den Chefs beliebte, angenehme Frische zu verleihen. Sie wurde krank, wagte aber nicht, darüber zu reden. Sie wußte, das wäre für ihre Arbeitgeber ein erwünschter Vorwand, sie loszuwerden. Sie sprach nicht davon, aber ihre Nerven ließen sich tückisch von ihr nicht zur Stummheit verurteilen. Sie bekam einen kleinen Tick, von dem sie selbst erst gar nichts wußte. Ihr rechtes Augenlid zuckte in regelmäßigen Abständen, von ihrem Willen unabhängig. Ihre jüngeren Kolleginnen, die in ihr keineswegs ein künftiges Schicksal verkörpert sehen wollten, lachten über das 28 zuckende Auge und fanden sie nur komisch. Dem Chef aber ging es auf die Nerven. Das fehlte noch, daß er sich bei dem schlechten Geschäftsgang von den Unarten seiner Angestellten nervös machen lassen sollte. Bei Ablauf der nächsten Kündigungsfrist kam ihre Weiterbeschäftigung nicht mehr in Frage. Wie vorauszusehen war und wie schon erwähnt wurde, blieben die Versuche Fräulein Hases um eine Stellung erfolglos. Soweit sich Firmen auf Grund ihrer glänzenden Zeugnisse auf Verhandlungen einließen, stellte sich bald heraus, daß sie ihre Einstellung von einer Bareinlage, die zwischen 100 und 5000 Mark schwankte, abhängig machten ... Inzwischen begann sie sich mit Hilfe von kleinen Abschriften über Wasser zu halten. Einmal aber, als sie dringend Geld brauchte, hatte sie ihre Maschine versetzt, und es fand sich keine Möglichkeit, sie wieder einzulösen. Sie versuchte vergeblich, bei der Wohlfahrt das nötige Geld zu erhalten, sie wandte sich sogar, wenn auch erfolglos, an Verwandte, mit denen sie schon längst keine Verbindung aufrechterhielt. Fräulein Hase, die ihre Berufsarbeit zu lieben gar keinen Grund hat, träumt öfters von ihrer Schreibmaschine. In diesen Träumen befindet sie sich nicht mehr im Versatzamt, sondern in ihrer W ohnung in Steglitz, und sie klappert fleißig auf ihr. Liebt sie doch ihre Arbeit? Oder hat sie nur Angst, auch die Wohnung in Steglitz zu verlieren? Denn der Wirt droht schon mit Exmittierung... Auszugsweise aus der Reportageserie: Frauen im Sturm der Zeit. Zwischen Arbeitsstätte, Stempelstelle und Familienheim. In: Welt am Abend (Berlin) 11. Jg. (1933), Nr. 24-33. Besuch bei Heinrich Heine Düsseldorf hat heute nur einen großen Sohn: Schlageter. Zu seinem Ruhm brennen ewige Feuer. Für ihn werden Denkmäler errichtet. In der Königsallee liegt zwischen Musikcafes sein Ehrenmal. In der Landes- und Stadtbibliothek am Friedrichsplatz verkündet eine große Tafel: “Schlageter-Museum“. Ich frage den Portier: Wo ist, bitte, das Heine-Zimmer?“ Er sieht mich verständnislos an. Dann ruft er einen älteren Mann. Der gibt mir düster Auskunft: “Das Heine-Zimmer ist vorläufig für immer geschlossen.“ Ich gebe mich aber damit noch nicht zufrieden und gehe in die Kartothekräume der Bibliothek. ‚‚Könnte ich, bitte, das HeineZimmer sehen?“ Alle Anwesenden, Frauen und Männer, es sind die Angestellten der Bibliothek, halten in ihrer Arbeit inne und blicken mich verwundert an. Einer knurrt: „Wissen Sie denn nicht, daß das Heine-Zimmer geschlossen ist? Von wo kommen Sie denn her?“ „Aus Amerika“, sage ich, ‚und ich bin in Düsseldorf nur ausgestiegen, um das Heine-Zimmer zu sehen.“ Alle starren mich an, als wäre ich ein Wundertier: die kommt also aus Amerika und ahnt nichts davon, wie es in Deutschland zugeht! Aber gab es nicht auch Leute im Krieg, die nichts von ihm wußten? Ich blicke heiter und unbefangen vor mich hin. Die Angestellten stecken die Köpfe zusammen, flüstern, beratschlagen. Dann kommt ein hagerer Mann auf mich zu: ,, Warten Sie!“