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Herbert Haber Die Einkäufe der Frau Kohen Schon als sie noch mit ihren Einkäufen im Supermarkt beschäftigt war, schien sie ihm verdächtig. Der Inspektor behielt sie im Auge und folgte ihr zur Kassa. Aber nein: sie bezahlte alle Waren, die sie von den Regalen genommen hatte: Brot, Milch, Obst, eine Schachtel Seifenpulver, Eier, Reis, zwei Dosen Tomatenmark, ein tiefgekühltes Huhn und gewisse intime weibliche Verbände... Auf der Straße folgte er ihr einige Häuserblöcke weit, stieg ihr dann zu Fuß in den dritten Stock nach. Er schrieb den Namen auf, der am Türschild zu lesen war: Kohen. Er blickte auf die Uhr, notierte den Zeitpunkt, steckte seinen Block wieder in die Tasche und kehrte zum Supermarkt zurück, um dort über neue Verfehlungen zu wachen. Das Inspektionskommando kam noch am selben Donnerstagabend zu Frau Kohen: Zwei junge Männer, in schwarze Kaftane gehüllt, mit Bärten und Schläfenlocken. Der eine war lang und dünn, der andere eher dick. Sie klingelten an der Tür und hatten den Zettel in der Hand, den der Inspektor am Morgen ausgefüllt hatte. „Frau Kohen“, fuhr sie der Längere an, ‚‚heute Vormittag hat man Sie in diesem Bezirk im Supermarkt gesehen, wie Sie ein tiefgekühltes Huhn gekauft haben, und dazu noch eine Packung Milch. Stimmt das?“ „Ja, und ich habe alles mit meiner Kreditkarte bezahlt. Wollen Sie die Quittung sehen?“ „Nein. Es handelt sich nicht darum. Sie sollen uns jetzt sagen, wie Sie dieses Huhn zubereitet haben. Und wofür war die Milch bestimmt?“ „Mit dem Huhn koche ich erst morgen eine Suppe für das Freitagabendmahl, wenn die Kinder zum Erev Sabbat zu mir kommen. Die Milch brauche ich für den Kaffee. Und ein wenig auch fiir unsere Katze.“ „Aber nicht, um das Huhn in dieser Milch zu kochen, der Himmel behüte.“ „Nein, dazu nehme ich sie sicher nicht. Und ein paar Tropfen spritze ich in das Kartoffelpüree.“ „Welches Püree? Das für morgen abend?“ ‚Ja. Warum denn?“ „Das Püree, das Sie am Sabbattisch servieren werden, zusammen mit dem Suppenhuhn?“ „Ja.“ „Schreib auf, Moische: Verstoß gegen die Thora, zweites Buch, Kapitel dreiundzwanzig, Paragraph neunzehn: Mischung von Milch und Fleischspeisen, laut eigenem Bekenntnis der Schuldigen. Darauf erfolgt eine Strafe von fünfundzwanzig Dollar zugunsten der Jeschiwa Haman ben Hamdata in Eilath.“ „Und die Angelegenheit mit den hygienischen Verbänden?“ säuselte der Dicke auf Jiddisch seinem Kollegen ins Ohr. „Ach ja! Frau Kohen: Man hat auch beobachtet, daß Sie gewisse Objekte für den weiblichen Gebrauch eingekauft haben, die ich aus Sittsamkeit nicht näher beschreiben will. Für wen waren diese Objekte bestimmt?“ „Sie waren für mich. Aber was geht Sie das eigentlich an?“ „Sie wissen, daß es Ihnen verboten ist, mit Ihrem Mann zu schlafen, solange Sie diese ‘Tage’ haben.“ „Und wer sagt Ihnen, daß ich mit meinem Mann schlafe?“ „Sie schlafen mit jemand anderem? Um so ärger! Verbrechen des 32° Ehebruchs, schwerer Verstoß gegen die Zehn Gebote, Artikel sieben! Todesstrafe nach der Thora, die aber vermieden werden kann durch eine Spende von tausend Dollar Sühnegeld zugunsten der Jeschiwa...“ „Sind Sie wahnsinnig, ich bin Kriegerswitwe, mein Mann ist am Sinai gefallen, im Kampf, um solchen Schmarotzern wie Euch das Leben zu retten!“ „Entschuldigen, Witwe Kohen, wir wollten Sie wirklich nicht kränken!“ „Bleibt noch die Sache mit dem Reis“, wisperte wieder der Dicke auf Jiddisch seinem Kollegen. „‚Ja, sicher‘ , stimmte dieser zu. ,, Wofiir ist der Reis bestimmt, Frau Kohen, den Sie heute morgen auch gekauft haben?“ „Was heißt: wofür? Damit ich ihn im Hause habe. Um Milchreis zu kochen, oder um ihn in die Suppe zu tun. Um Pudding zu machen...“ „Aber wissen Sie denn nicht, daß wir Ende nächster Woche Pessach feiern und Reis dann verboten ist, weil er als ‘Chametz’ zu betrachten ist, eine Speise mit Sauerteig?“ „Wohl nicht so sehr unter den sephardischen als unter den askenasischen Juden. Sind Sie eine sephardische oder eine askenasische Kohen? Und von wem stammt Ihr verstorbener Mann ab?“ „Mein Mann wurde auf den Philippinen geboren, sein Vater war aus Polen, seine Mutter aus Griechenland, aus Saloniki.“ „Und Sie selbst?“ „Ich bin Israeli, schon die fünfte Generation.“ „Und vorher, die sechste?“ „Meine Vorahnen kommen aus der Türkei.“ „Nun gut“, erklärte der Lange, ,,wir werden die Frage unserem Rabbi vorlegen, er wird entscheiden, welche Halacha beim Reis für Sie gilt, die askenasische oder die sephardische. Inzwischen lassen wir die Sache im Zweifel zu Ihren Gunsten ruhen und werden Ihnen keine zweite Strafe auferlegen.“ „Für das Huhn und die Milch erhalten Sie nächste Woche die Vorschreibung. Regen Sie sich nicht auf: Man kann die Strafe in bequemen Monatsraten abzahlen.“ „In israelischen Schekels, versteht sich, je nach dem Kurswert des Dollars.“ „Und vielleicht“, fügte der Dicke hinzu, ,,gibt man Ihnen Rabatt, da Sie ja Witwe sind...“ Die beiden grüßten höflich und verschwanden im Hausflur. „Apropos diese Witwe“, sagte der Dicke, als sie die Treppe hinuntergingen, ,,gib mir noch einmal den Zettel. Ich muß mir den Namen und die Telefonnummer von dieser charmanten Brünetten aufschreiben!“ Herbert (Heriberto) Haber, geboren 1930 in Wien, flüchtete 1938 nach Argentinien, studierte in Buenos Aires und war Lehrer an Jüdischen Schulen in Südamerika und ab 1971 in Israel. Haber lebt in Ashdod (Israel) und schreibt meist Spanisch, aber auch Hebräisch, Englisch und Deutsch. In seinen zwei Büchern über ‚‚Israbinolandia“, denen die vorliegende Erzählung ‚Die Einkäufe der Frau Kohen“ entnommen und vom ihm selbst aus dem Spanischen ins Deutsche übersetztwurde, kämpft Haber auf seine Weise, mit Humor und etwas Ironie, gegen verschiedene mittelalterliche Religionsgebräuche, die manche jüdische Kreise im modernen Staat Israel bis zum heutigen Tage dem ganzen Land aufzwingen wolllen. Begriffserklärungen: Erev Sabbat — Vorabend des Sabbat; Jeschiwa — Talmudakademie; Askenasen — aus Mittel- und Osteuropa stammende Juden; Sepharden— 1492 aus Spanien vertriebene Juden und deren Nachkommen; Halacha — rabbinisches Gesetz.