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chen Kohle-Filter drang; neben ihnen verreckten die Ratten und die Zugtiere; in den Kavernen wurden die Fernsprecheinrichtungen zerstört, aber es lebte ohnehin keiner mehr, der sie bedienen konnte. Um sechs Uhr lag in der Talsohle eine Nebelsuppe aus tödlichen Giftgasen. Von nun an bis 8.30 feuerte die Artillerie und machte alles dem Erdboden gleich, was sich mit Glück oder Zufall dem tödlichen Gift entziehen konnte. Die Kriegsberichterstatter meldeten, daß 40.000 Italiener in den Morgenstunden des 24. Oktober 1917 gefallen seien. Präzise ist diese Angabe nicht, da sie im Sitzen oder Liegen vergast wurden und daher schwer umfallen konnten. — Also gut, die Italiener verloren an die 40.000 Mann. Aha, die wurden einfach verloren? Hätte man nicht auf sie besser aufpassen können? — 40.000 sind halt einfach vor dem Feind geblieben. Aber was haben sie dort gesucht? Am Ende den Heldentod? Um neun Uhr erfolgte der Befehl zum Angriff der Infanterie. Den über die Berge vordringenden Fußtruppen bot sich kaum ein Hindernis — die Bataillone der 2. italienischen Armee waren entweder aufgerieben oder die Soldaten waren in panischer Angst ungeordnet ins Hinterland geflüchtet. Das in der Talsohle des Flitscher Becken liegende Zielgebiet des Giftgasangriffs wurde zur selben Zeit von mit Masken versehenen Elitetruppen — etwa 200 Mann - kontrolliert, die speziell für den Einsatz in von Giftgas verseuchtem Gebiet ausgebildet worden waren. Sie perlustrierten die Kavernen und Schützengräben der vordersten Linien. ‚In diesen Gräben herrschte Todesstille — es gab keine Anzeichen von Leben. Die Vergasung war perfekt gewesen - so jedenfalls meldeten es die deutschen Soldaten kühl“, schreibt Vasja Klavora. ‚‚Alle Soldaten des 3. Bataillons der Brigade Friuli hatten in diesem Graben das Leben gelassen.“ Erst langsam nahm im Flitscher Becken die Luftkonzentration der Giftgase ab, nachdem die Elitetruppen anfangs sogar befürchteten, daß die Giftgase durch eine Winddrehung sich gegen die eigenen Leute richten könnten. Stunden nach dem verheerenden Angriff konnten die Spähtrupps melden: ‚Die Luft ist rein.“ Weniger cool berichtete der Artillerieleutnant Fritz Weber, der an dem Gemetzel teilgenommen hat, in seinen 1938 erschienenen Erinnerungen. Blau und aufgedunsen waren die Gesichter der Leichen, ,,die meisten an den Wänden ihrer Unterkünfte hockend, das Gewehr zwischen den Knien, die Rüstung umgeschnallt. In einer Baracke ihrer vierzig, beim Ausstieg die Offiziere, die Unteroffiziere; Telefonisten mit umgeschnallten Kopfhörern, den Schreibblock vor sich, den Bleistift in der Hand ... Sie müssen gestorben sein, ohne zu wissen, was da draußen geschehen war. Hinaus,weg! Es ist einem, als müßte man in der Maske erstikken!“ Was da draußen geschehen war, wurde von beiden Seiten in weiterer Folge verheimlicht. Weder erwähnte der Kommandant der 14. Armee, General Otto von Below, in seinem publizierten Tagebuch die Giftgasangriffe, noch macht der Orden vergebende Oberste Kriegsherr Karl davon viel Aufsehen. Allerdings gab er den Giftgaseinsatz an der Piave-Front in einem Brief vom 8. Oktober 1920 zu. In seiner gewohnten zynisch-kaltschneuzigen Art verteidigte er sich gegen Vorwürfe, die Soldaten mit zu wenig (!) Giftgas ausgerüstet zu haben, und er wies auf eine von ihm eingeleitete Untersuchung hin, „die ergab, daß Gasmunition im Verhältnis in genügender Menge vorhanden war“. 34° Auch in einem in Berlin 1942 erschienenen Buch ‚‚Die Infanterie greift an, Erlebnis und Erfahrung“ erwähnte ein bekannter Zeitzeuge mit keinem Wort die Giftgaseinsätze. Der Zeitzeuge war ein beim ,, Wunder von Karfreit“ durch seine Verwegenheit aufgefallener Leutnant der Gebirgsjager, der sich schon damals durch die Kühnheit seiner Attacken für höhere Aufgaben in späteren Kriegen qualifizierte. Er hieß Erwin Rommel. Auch die Italiener bekundeten keinen erkennbaren Willen, die Ursachen für den rasanten Durchbruch der feindlichen Armee zu bekunden. Der Leiter des Armeeoberkommandos, General Luigi Cadorna, erwartete beim Bekanntwerden eine massive Verunsicherung sowohl der Soldaten als auch der Zivilbevölkerung. Zudem befürchtete man Kritik an der italienischen Armeeführung: durch Überläufer und Spione habe man sehr wohl vom bevorstehenden Gasangriff in Bovec/Flitsch gewußt, und zudem hätte man die Soldaten in den vordersten Reihen nur sehr mangelhaft und mit untauglichen Gasmasken ausgerüstet. Licht in die Angelegenheit brachten der österreichische Militärhistoriker Manfred Rauchensteiner und auf slowenischer Seite Vasja Klavora, der für sein in Österreich nahezu unbekanntes Buch ‚„‚Blaukreuz“ die letzten lebenden Zeitzeugen interviewte. Wegen der Überfülle des Materials ließ er ebenfalls im Hermagoras Verlag ein zweites Buch folgen: „Die Isonzofront — Karfreit/Kobarid-Tolmein/Tolmin 1915-1917“. Weiteres Anschauungsmaterial ist im Museum von Karfreit/Kobariski Muzej ausgestellt: Etwa Schwarz-Weiß-Photos von Opfern der Giftgasangriffe, der eine Soldat hält gerade die Spielkarten in der Hand, der andere raucht die Pfeife, da muß sie wohl der Gasangriff überrascht haben. Das Wunder von Karfreit ist also geklärt, aber für den Obersten Kriegsherrn Karl und seine Seligsprechung bedeutet diese Klärung nichts Gutes. Schon die bisherige Sündenliste, welche, laut ‚„‚Kirche Intern“ von Rudolf Schermann, dem Vatikan vorliegt, ist nicht endenwollend. So sei Karl ein besessener Militarist gewesen, außerdem sei auf Grund seiner Unzuverlässigkeit und Unehrlichkeit eine Zusammenarbeit mit dem jungen Monarchen schwer, ja oft unmöglich gewesen; er habe sich an der Front leidenschaftlich persönlich für das ‚Sterben fiir Kaiser und V aterland“ eingesetzt; er habe egoistische und zynische Charaktermerkmale (etwa in seinen Privatbriefen) zum Vorschein kommen lassen, und er habe über das übliche traditionelle Mittelmaß und das kaiserliche Protokoll hinaus keine besondere Gläubigkeit an den Tag gelegt. Die Auflistung der Sünden des Obersten Kriegsherrn Karl kann nun durch eine Tatsache ergänzt werden: Seine Zustimmung zum völkerrechtswidrigen Einsatz von Giftgas. Beppo Beyerl, geboren 1955 in Wien, studierte Slawistik in Wien, war Schauspieler und Kabarettist, lebt in Wien. Beyerl veröffentlichte u.a. (zum Teil in Zusammenarbeit mit Klaus Hirtner und Gerald Jatzek) die Reportagen ‚‚Flucht“ (Wien 1997), ,,Literarische Spaziergänge“ durch Wien (Bielefeld 1994) und die Kinder und Jugendbücher ,, Eckhausgeschichten“, ,, Das Goldhorn“, „Freddie Flink in Schilda“. Zuletzt zusammen mit G. Jatzek „Lexikon der Nervensägen“ (München 1998). Beppo Beyerl ist Herausgeber der Literaturzeitschrift ‚‚ Podium“. — Vgl. Sabine Grubers Beitrag in MdZ Nr. 2/1998, S.11f., , Kobarid, Caporetto oder Karfreit?“, der den Ort des Verbrechens aus heutiger Sicht schildert.