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Beppo Beyerl Das Lager von Gmünd Jede Baracke ist vierzig Meter lang und zehn Meter breit, somit beträgt ihre Größe genau 400 Quadratmeter. Pro Baracke wohnen 300 Personen, auf eine Person entfallen daher genau 1,333 Quadratmeter. Acht Baracken sind zu einer Sektion zusammengefaßt, eine Sektion hat daher 2.400 Bewohner. Insgesamt gibt es fünfzehn Sektionen, in denen 36.000 Personen hausen. Der Erste Weltkrieg hatte soeben begonnen, und unzählige Ruthenen flohen aus dem Königreich Galizien, aus jener Region, die heute als Westukraine bezeichnet wird. Über die Ursachen ihrer Flucht gibt es zwei Thesen. Erstens: Nach dem Einfall der russischen Truppen in Galizien wälzte sich ein riesiger Flüchtlingsstrom nach Ungarn, den die ungarischen Behörden in Übereinstimmung mit der Gesetzeslage sofort nach Österreich weiterschoben. Zweitens: Die österreichischen Behörden leiteten die Transportation ein, um eine Verbrüderung der Ruthenen mit dem russischen Erzfeind von vornherein zu unterbinden. Als im Osten Österreichs ein Standort für ein Lager gesucht wurde, faßte die k.k. NO. Statthalterei erst eine Weide in Oed — in der Nahe von Irmfritz — ins gestrenge Auge der Behörde. Ingenieur Michael Hofer vom Hochbauamt der NÖ. Statthalterei entschloß sich jedoch für die Stadt Gmünd und wählte die westlich des Bahndammes liegenden Grundstücke aus. Begründung: Nähe zur Eisenbahn, Durchführbarkeit von Wasseranschluß und elektrischer Beleuchtung. Bis Dezember 1914 ließ Ingenieur Hofer in wenigen Wochen das Lager errichten. In den Plänen der k.k. Bauleitung des Barakkenlagers sind eingezeichnet: Die schon eingangs erwähnten 15 Sektionen für etwa 36.000 Menschen; dazu Stallbaracken für Rinder, Pferde und Schweine; Fleischhauerei und Bäckerei; Schule, Kirche und Werkstätten; zehn Spitalsbaracken, dazu noch mehrere Infektionsbaracken; und hinter den Infektionsbaracken die Leichenhalle und der Friedhof. Zwischen 1914 und 1918 waren insgesamt eine weit höhere Zahl von Ruthenen hier untergebracht, da viele weiterzogen oder starben und durch neue ersetzt wurden. Die erhaltenen Photos werfen Licht in die dürren Daten der Statistik. Aufeinem Photo sieht man den Lagereingang: links und rechts des Tores sind waffentragend und pfeifenrauchend heimische Uniformträger postiert; zwischen ihnen ziehen Neuankömmlinge ins Lager, die Frau bloßfüßig und mit Kopftuch, an einem Strick hält sie zwei Kühe, der Mann schleppt einen schweren Sack über der Schulter, gefüllt mit dem mitgebrachten Hab und Gut aus der fernen Heimat. Andere Photos vermitteln den Eindruck, daß die Flüchtlinge im Lager ein bißchen ruthenische Atmosphäre verbreiten wollten, um dem tristen Alltag standhalten zu können. Man sieht sie in der heimischen Tracht, die Männer mit Röhrenstiefeln, oben einem weißen langen Kittel, darüber eine ärmellose Schaffelljacke, Mütze aus Lammfell. Die Frauen mit den bunt gestickten langen Röcken. So pilgerten sie in die russisch-orthodoxe Holzkirche, die genau in der Lagermitte errichtet war, oder sie besuchten die zum Theatersaal umfunktionierte Baracke mit dem Schild ,,Sala teatralnja““. Daß der Alltag nicht so bunt und fröhlich war wie auf den Photos, beweist ein Blick in die Sterbestatistik. Insgesamt kamen während des vierjährigen Lagerlebens etwa 30.000 Menschen um. Das entspricht einem Schnitt von 30 Personen pro Tag. Im Winter 1915/16 sollen pro Tag an die hundert gestorben sein. Genauso schnell wie die Ruthenen kamen, verließen sie das Lager. Die meisten wurden repatriiert, einige wanderten ins ferne Amerika aus. Den größten Teil der Grundstücke übernahm eine Wohnbaugesellschaft, andere Objekte wurden von der Genossenschaft und der Gemeinde Gmünd erworben. Allem Anschein nach lebt ein einziger der ‚„‚Lagerianer“ heute noch in Österreich. Herr Dimitri Zarycka, geboren am 21.10. 1916 im Lagerspital. Seit über 30 Jahren wohnt Herr Zarycka nunmehr im selbstgebauten Haus in Raabs, einer lieblichen Kleinstadt an der Thaya. Im ortsüblichen Waldviertler Dialekt erzählt er, daß er kein einziges Wort Ukrainisch kann. Seinen Eltern hatten ihn in Anbetracht ihres Kinderreichtums ‚‚in Pflege gegeben“. Deshalb ist er bei seinen Pflegeeltern im Waldviertel geblieben, seine leiblichen Eltern remigrierten in ihre Heimat. Als er heiraten wollte, stellte sich heraus, daß ihm die nötigen Papiere fehlten. Nach den ersten Nachforschungen kam er auf einmal darauf, daß er in Wirklichkeit ein Ukrainer sei, er eruierte seine Eltern in der fernen Ukraine und ließ sich von ihnen den Beweis seiner Existenz nachschicken. Da jedoch sein Vorname Dimitri hierorts nicht anerkannt wurde, heißt er bis heute Demeter. „Ich werde zusammen mit meinem Sohn meine Erinnerungen aufschreiben“, erzählt Demeter Zarycka, der letzte ukrainische Waldviertler. Am westlichen Rand des Lagers steht eine Holzbaracke, die als Getreidespeicher benutzt wurde und unter dieser Bezeichnung auch in den Annalen der Stadthistoriker geführt wird. Die Barakke ist ungefähr hundert Meter lang und zwanzig Meter breit, ein längst nicht mehr benutztes Eisenbahngleis führt an ihr vorbei und endet im Dickicht hinter der Baracke. Der Vorderteil ist bewohnt, ein paar Fenster sind eingebaut, Wäsche hängt aufeiner Leine. In die Restbaracke ist eine durchgehende Oberlichte eingebaut, die es jedoch nicht ermöglicht, alle Winkel des Raumes auszuleuchten. Wasserleitungen und Stromkabel sind nicht zu eruieren. In diesem Getreidespeicher waren 1944-45 ungarische Juden interniert. Die ersten Viehwaggons mit Juden erreichten im Frühsommer 1944 den Bahnhof Gmünd. Die rassisch Verfolgten werkten in der Kartoffelfabrik, die die Nazis unter der Bezeichnung ,,Kartoffel AG“ auf dem Gelände des ehemaligen Ruthenenlagers errichtet hatten. Untergebracht wurden sie in einer heute nicht mehr existierenden Baracke auf dem Gelände der Kartoffelfabrik. Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 1944 — am 22. Dezember — erreichten die nächsten Viehwaggons mit ungarischen Juden den Bahnhof Gmünd. Daß der Ausdruck ‚‚Transport“ für die Verfrachtung von eingepferchtem Menschenmaterial zu Recht gewählt wurde, beweist auch die dabei erfolgte Beschädigung der Ware: Als die Viehwaggons geöffnet wurden, waren etliche Juden tot. Die etwa 1.400 überlebenden Juden wurden in den Getreidespeicher getrieben. Dort lagerten sie unzureichend bekleidet auf dem nackten Betonboden, erst später wurde Stroh auf dem Betonboden verteilt. Bewacht-wurde das Lager von treuen Parteigängern und vom „, Volkssturm‘. Trotzdem schafften es ab und zu ein paar jämmerliche Gestalten mit dem gelben Stern auf der Brust, sich in die Stadt durchzuschlagen und um Brot zu betteln. Dabei riskierten sie ihr ohnedies verwirktes Leben: Mehrmals wurden sie von den 35