OCR
Fritz Kalmar Das Dorf mit den zwei Brücken Gleich anderen hatte er von dem Dorf schon gehört, sich aber nicht darum gekümmert, genau so wie diese anderen, mit denen er das Lebensmuster teilte: Arbeit, Familie, Arbeit, Gewinn, Familie, Arbeit, Besprechungen (nicht Gespräche) mit Kunden, Kollegen, Bekannten, Abschlüsse, Projekte, vorwärts, aufwärts. Wo blieb da noch Zeit zum Nachdenken über Geschichten wie die von dem Dorf mit den zwei Brücken! Erst als er sich einen Herzinfarkt angearbeitet hatte und von den Ärzten zu ein paar Wochen Ruhe verdammt wurde, fiel ihm in der Langeweile der Rekonvaleszenz diese unglaubwürdige Sache ein und saugte sich in seinem Gehirn fest. Ob das nicht eine recht ordentliche Erholungsstätte wäre? Leute, die nie dort gewesen, hatten ihm dieses Dorf als ein kleines Paradies gepriesen, freilich, so wie das große, schwer zu erreichen. Man mußte über hohe Berge, durch dunkle Wälder wandern, immer gegen Sonnenaufgang, bis man zu einem Wege kam, der bergab führte, aus dem dichten Walde heraus auf eine lichte, blumenbestandene Wiese, ruhevoll und ruhespendend. Unten, an ihrem Ende, sah man dann schon den Fluß, über den zwei Brücken zu dem Dorfe führten. Von diesem wußte man nur, daß es klein war und unentdeckt von Städteplanern, Bauunternehmern, Grundstückmaklern, Fremdenverkehrsförderern und sonstigen Wohltätern der Menschheit. Seine Bewohner besaßen -es war ja so klein - keine Fahrzeuge, ihre Arbeit brachte ihnen, was sie zum Leben brauchten, und damit waren sie angeblich zufrieden. Sie fühlten sich nicht verlockt, die sehenswerte Stahl-, Glas- und Betonwelt jenseits ihrer Stille kennen zu lernen. Nur einen einzigen Wunsch hatten sie alle: Es möchten doch Menschen von draußen, aus der Unruhe, sich zu ihnen gesellen und das gesegnete Leben des Herzensfriedens mit ihnen teilen. Das versuchte auch mancher, der davon gehört hatte, überwand die Mühsal des Weges und gelangte an das Ufer des Flusses. In das Dorf jedoch kam er nicht. Dazu hätte er eine Bedingung erfüllen müssen, die etwas mit den zwei Brücken zu tun hatte, und an dieser waren noch alle, oder fast alle, gescheitert. Der Rekonvaleszent hätte gern gewußt, was für eine Bedingung einem da gestellt wurde, doch das konnten seine Gewährsleute ihm nicht sagen. Je länger er nachdachte, desto stärker wurde sein Verlangen, dieses Dorf zu besuchen und, wenn wirklich alles so war wie geschildert, sich dort niederzulassen. Von den Zinsen seines Vermögens konnte er überall ohne Sorgen leben. Zwar gab es dort sicher keine Bank, dafür aber, so hieß es, auch keine Sorgen. „Man hat was man braucht, und mehr braucht man nicht‘, dachte er, riß sich aber von diesem wirtschaftspolitisch eher abwegigen Gedanken gleich wieder los. Nur langsam! Tiefgreifende Entscheidungen wollten sorgfältig überlegt sein. Doch das Bild eines wunschlosen, heiteren Lebens wurde immer anziehender. Als er wieder bei Kräften war, stand sein Entschluß fest: weg von der gewohnten Umgebung, weg vom gewohnten Tun, weg von Computern, Telefon, Telex, Fax, Internet, E-mail, von Kursen, Krediten, Konferenzen, Kunden, Kauf und Verkauf, weg von allem! Ins Dorf der Zufriedenheit! Von der Beschwerlichkeit der Wanderung hatte man ihm nicht zuviel erzählt. Es ging bergauf, bergab, durch weglose Wälder, über Felsengetürm, sumpfige Wiesen, durch Bäche, Gestrüpp, immer dem Sonnenaufgang zu. Endlich, nach Tagen großer Mühe, fand er im dichten Walde einen schmalen Weg. Er beschritt ihn, das Gehen wurde leichter, der Weg breiter. Auf einmal stand der Wanderer am Rande des Waldes. In hellem Sonnenschein lag vor ihm die blumenbunte Wiese, Vögel zwitscherten, weiter unten glitzerte der Fluß. Freudig betrachtete er alles. Er hatte es geschafft! Trotz eben erst überstandener Krankheit, trotz harter Anstrengung und Anwandlungen von Mutlosigkeit. Dort drüben lag das Dorf! Er ging die Wiese hinunter, doch ehe er den Fluß erreichte, trat ihm aus dem Schatten einer kleinen Baumgruppe ein Mann entgegen, eine mächtige Gestalt, Halt gebietend. „Was willst du hier?“ „Ich will in das Dorf und mit den Menschen dort leben“, antwortete er. „Ich glaube, sie haben auf mich gewartet.“ Er deutete hinüber. Leute standen da und winkten ihm zu, sichtlich erfreut über sein Kommen. „Wer bist du?“ „Ich bin der Wächter dieses Dorfes. Nur Menschen besonderer Art dürfen hinein.“ „Wie müssen sie sein?“ „Sie müssen geraden Denkens sein. Verstehst du, was ich meine? Du wirst wohl wissen, daß es gerades und krummes Denken gibt.“ „Ich weiß es. Du sprichst von Wahrheit und Lüge.“ „Nein. Auch gerades Denken kann zu einem Irrtum führen, krummes Denken zum richtigen Schluß. Nicht auf das Ende kommt es an, sondern auf die Art, es zu suchen.“ „Wie erkennt ihr, wer gerade und wer krumm denkt?“ Der Wächter lächelte. „Wir erkennen es.“ „Was muß ich tun, um in das Dorf eingelassen zu werden?“ „Das will ich dir zeigen. Siehst du die zwei Brücken, die über den Fluß führen?“ Ah, jetzt also kam die Bedingung, von der man ihm erzählt hatte. „Ich sehe sie.“ „Geh hin und schaue sie dir genau an. Eine Stunde vor Sonnenuntergang sollst du über eine von ihnen ins Dorf gehen. Du hast viel Zeit, zu überlegen, welche du benützen wirst. Ist es die richtige, wird man dich liebevoll aufnehmen; ist es die falsche, so mußt du zurück.“ Auf ein freundliches Nicken des Wächters ging er zur ersten Brücke. Fest war sie, einfach und breit genug selbst für Fahrzeuge, hätte es dort welche gegeben. Wo war die andere? Er sah sie etwa hundert Meter flußaufwärts und ging hin. Aber konnte man das eine Brücke nennen? Das war ein schmales, armseliges Gebilde aus brüchigen Brettern, die an manchen Stellen weit auseinander lagen, mit Schnüren unsicher zusammengehalten, eine Hängebrücke, auf beiden Seiten an Bäumen befestigt, löchrig, schwankend, ohne Geländer, ohne Halteseile. Über diese Brücke zu gehen, erforderte Mut, und noch mehr Mut, wenn man hinunter schaute. In kleinen Kaskaden über Felsen kommend, drehte das Wasser gerade unter dieser Brücke einen gefährlichen Wirbel. Wer da hineinfiel, wurde nach unten gezogen. Er ging zurück. Der Wächter lud ihn ein, im Schatten der Bäume auszuruhen und in aller Stille zu meditieren, um ruhigen Geistes die richtige Wahl zu treffen. Allein gelassen, legte er sich unter einen Baum. An rasches Denken gewöhnt, wußte er bald, woran er war. Meditieren war nicht nötig, die Zeit bis zur Prüfung ließ sich gut mit Schlaf ausfüllen. Beim Erwachen sah er schon den Wächter kommen, sah auch, daß auf der anderen Seite des Flusses jetzt viel mehr Menschen standen, wahrscheinlich alle Bewohner des Dorfes. Sie winkten nicht, sie warteten in feierlicher Stille. „„Bist du bereit?“ fragte der Wächter. „Jawohl!“ Er freute sich geradezu auf die Probe, zwinkerte ihm verschmitzt zu, ging eilig zur Hängebrücke und begann den gefährlichen Weg. W ie sie schwankte! V or jedem Schritt mußte er mit dem Fuß tasten, ob das Brett fest genug war, einen Mann 37