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zu tragen, mußte darauf achten, nicht in einen Spalt zwischen zwei Brettern oder in ein großes Loch zu treten, mußte sich davor hüten, in das wirbelnde Wasser zu schauen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, seine Knie zitterten, die Brücke schien sich ins Endlose zu dehnen. Endlich stand er auf festem Boden. Nach ein paar tiefen Atemzügen lief er freudig auf die Dorfbewohner zu. Sie kamen ihm nicht entgegen. Als er sie erreichte, sah er nur ernste, traurige Gesichter. „Schade!“ sagte einer von ihnen, wohl der Älteste, das Oberhaupt der Gemeinde. „Es wäre uns eine Freude gewesen, dich bei uns aufzunehmen.“ „Was soll das heißen?“ rief er. „Habe ich denn die Probe nicht bestanden? Habe ich nicht Mut bewiesen, um zu euch zu gelangen?“ „Mut hast du bewiesen, das schon“ , erwiderte der Alte. „Aber du wurdest ja nicht auf deinen Mut geprüft, sondern auf dein Denken. Ob es gerade oder krumm ist. Und da hast du leider versagt.“ ZZ „Aber wieso denn? Das verstehe ich nicht.“ „Weil du nicht gerade denken kannst. Könntest du es, so hättest du dir sagen müssen: hier stehe ich, drüben liegt das Dorf, eine gut gebaute Brücke führt zu ihm, also gehe ich da hinüber. Aber nein, so einfach, das war dir verdächtig. Du hast so spekuliert: da ist eine feste Brücke, die soll mich verlocken, ohne Überlegung darüber zu gehen. Eine Falle! Über die andere Brücke muß ich gehen, Gefahr muß ich überwinden. Um abzuschrecken läßt man sie in so elendem Zustand. Aber ich durchschaue euch, ich erkenne die Absicht, so schlau wie ihr bin ich auch, ich gehe über die schlechte Brücke. Hast du so gedacht?“ Er sah den Alten schweigend an. „Ja“, sagte er nach einer Pause der Beschämung und Enttäuschung. „Ja, genau das habe ich gedacht.“ „Leb wohl! Schade, sehr schade! Als wir dich kommen sahen, waren wir voll Freude. Jetzt mußt du zurückgehen. Doch dafür kannst du diese Brücke benützen, die feste, über die man leicht und sicher gehen kann. Leb wohl!“ In seine alte Welt zurückgekehrt, arbeitete er fleißig, um mehr zu verdienen als er brauchte, und dachte doch ständig an das Dorf. Er konnte sich mit seiner Niederlage nicht abfinden. Was tun, um trotz allem in das Dorf zu gelangen und dort als Glücklicher mit Glücklichen zu leben? In einer Nacht kam ihm die Antwort. Sie riß ihn fast aus dem Bette. Das war es, so mußte er es machen! Er kannte die Bedingung — oh, jetzt konnte er den guten Leuten zeigen, wer schlauer war. Monatelang rasierte er sich nicht und besuchte auch keinen Friseur, bis Bart und Haar so lang waren, daß er sich im Spiegel selbst kaum erkannte. Er setzte Kontaktgläser ein, die seinen Augen eine andere Farbe gaben, und war nun sicher, daß weder der Wächter noch sonst jemand ihn erkennen würde. Ruhig würde er über die feste Brücke gehen, die Probe bestehen und freundlich aufgenommen werden. Wieder begab er sich auf die lange, schwere Wanderung, bergauf, bergab, durch Wälder ging es, über Felsen, Sumpfwiesen, durch Bäche und Gestrüpp, immer dem Sonnenaufgang zu. Alles war wie er es in Erinnerung hatte. Auch den schmalen Weg, der, später breiter werdend, aus dem Walde hinausführte, fand er und beschleunigte seinen Gang voll ungeduldiger Vorfreude. Doch seltsam, der Weg wurde nicht breiter, er blieb schmal, verengte sich sogar nach und nach, führte in dichtes Unterholz und verschwand dort. Zurück! Zurück bis zu einer bekannten 38° Stelle und dort nochmals ansetzen. Wieder falsch! Wie konnte er sich nur so irren? War er doch stets dem Sonnenaufgang entgegengewandert, es sollte gar nicht möglich sein, das Dorf zu verfehlen. Er mußte es finden. So wie er jetzt aussah, konnte ihn niemand erkennen, die Aufnahme war ihm sicher. Wochenlang zog er suchend umher. Sein Plan war fehlerlos, doch konnte er das Dorf nicht finden. Dort, wo es hätte sein müssen, war es nicht. Verschwunden als wäre es nie da gewesen. Fritz Kalmar Selbstbegegnung Ich bin mit mir allein. Das ist mir peinlich. Ich weiß nicht, was ich mit mir reden soll. Im téte-a-téte mit mir, da werd’ ich kleinlich Und zeig’ mir meinen ganzen Eigengroll. Im allgemeinen suche ich mir auszuweichen Und unter jedem Vorwand zu entgehn. Doch in gewissen Stunden, nächtlich bleichen, Muß ich mir leider Red’ und Antwort stehn. Wenn ich mich dann so nach mir selber frage, Kann ich mir kaum in meine Augen schauen, Es tritt mir immer deutlicher zutage: Ich hab’ zu mir schon lange kein Vertrauen. Ich war mir einmal gut. Das war vor Jahren, Da wußte ich von mir auch noch nicht viel. Inzwischen hab’ ich einiges erfahren Und jetzt bin ich im Umgang mit mir kühl. „Erkenn’ dich selbst!“ so mahnte ernst der Grieche. Das ist die tückischeste aller Lehren. Wer die befolgt; genau und ohne Schliche, Der kann fortan mit sich nicht mehr verkehren. Der wird sich auf die Spur zu kommen suchen, Der schaut sich zu bei allem, was er tut, Und eines Tages wird er sich verfluchen. Dann nämlich kennt er sich. Nur allzu gut. Hab’ ich das nötig? Ist es nicht gescheiter, Ich such’ mir Arbeit, Spiel, Geschäft, Applaus? Auf diesen Wegen kommt man immer weiter, Doch wer in sich geht, kommt nicht heil heraus. Von Fritz Kalmar (vgl. zu ihm Werner Hörtners Porträt „Auch das Heimweh hat seine Geschichte“ MdZ Nr.4/1997, S.10-13) wird im Frühjahr 1999 die Novelle ‚Das Wunder von Büttelsburg“ erscheinen. Er aber wünscht sich: Das ,,cogito, ergo sum“ Machte die Zweifler stumm. Wie gut ware alles bestellt, Wenn auch „sum, ergo cogito“ gält’.