OCR
Arie Efrat Der letzte Tag im Lande meiner Geburt Mein Vater verließ Deutschland für immer im April 1933. Sofort nach der Übernahme des Kanzleramtes durch Hitler verstand er, daß es für Juden in einem von Nazis beherrschten Land keine Lebensmöglichkeit mehr gab. Während er versuchen wollte, sich in einem freien Nachbarland eine neue Existenz aufzubauen, sollte meine Mutter unseren Hausstand auflösen und dann nachkommen. Meine älteren Geschwister waren als Juden von ihren Arbeitgebern sofort entlassen worden, ich hatte die Schule aus,,‚freiem Willen“ verlassen, und so halfen wir drei meiner Mutter nach Möglichkeiten bei ihrer Aufgabe. Der Dienstag, der 17. Oktober, war als Tag unserer Abreise bestimmt. Trotz der Eingriffe in das jüdische Leben, die seit dem Anfang der Naziherrschaft stattgefunden hatten, konnten wir am 30. September noch ungestört Jom Kippur, den Versöhnungstag, begehen und uns dann zum entgültigen Verlassen Deutschlands vorbereiten. Obwohl ich von meinen Lehrern während meiner ganzen Schulzeit kein böses Wort zu hören bekommen hatte, verstanden es meine Mitschüler jetzt, viele von ihnen gehörten schon der Hitler-Jugend an, mir die Schule und Deutschland zu verleiden. Doch dann machte ich wieder einen Spaziergang in die nahe unserer Wohnung gelegenen Wälder und Weiden, und die Liebe zu dieser Landschaft, die ich seit frühester Kindheit kannte, wallte wieder in mir auf. Wie konnten diese rauschenden Wälder, diese grünen Wiesen, diese murmelnden Bäche solche Menschen hervorgebracht haben, die mich plötzlich ohne Grund beschimpften und bedrohten? Hatte ich nicht mein Frühstücksbrot mit ihnen geteilt, ihnen bei den Aufgaben geholfen und zusammen mit ihnen in ihren Gärten Unkraut gejätet? Lagen nicht in der Schublade meines Großvaters Orden aus dem preußischdänischen (1864), aus dem preußisch-österreichischen (1866) und dem deutsch-französischen Krieg (1870-71), die seinem inzwischen verstorbenen jüngeren Bruder verliehen worden waren? War mein Onkel nicht im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen, und war mir nicht ihm zu Ehren sein Name gegeben worden? Hatte mein Vater nicht in demselben Krieg als k.u.k. Unteroffizier die „‚Ostmark“ verteidigt? Trotzdem mußte ich dieses Land noch in diesem Monat verlassen, Sollte ich nicht wenigstens noch eine gute Erinnerung an es mitnehmen? Als wenn man mir entgegenkommen wollte, fand ich am 15. Oktober in der Zeitung eine Anzeige der Köln-Düsseldorfer Schiffahrtsgesellschaft: „Zum Schluß der Saison Rheinfahrten zwischen Köln und Koblenz zum halben Preis!“ Ich zählte das Geld, das ich ein paar Tage vorher zu meinem Geburtstag bekommen hatte, und sah, daß es gerade für die Fahrt bis Königswinter und zurück reichte. Am nächsten Morgen stand ich mit einem Butterbrot in der Tasche am Rheinufer und stieg über die Landebrücke in den schon wartenden Dampfer, nachdem ich an der Kasse meine Fahrkarte erworben hatte. Nur wenige Fahrgäste fanden sich ein. Anscheinend konnte auch der halbe Preis nicht viele Ausflügler hinter dem Ofen hervorlocken. Fiel doch schon hie und da etwas Regen und ein kühler Wind wehte. Es dauerte nicht lange, bis wir rheinaufwärts unter der Hohenzollernbrücke durchfuhren, die nicht sehr anziehende Landschaft bis Bonn durchdampften und hinter dieser Stadt des Siebengebirges ansichtig wurden. Bonn wußte damals noch nicht, daß es ein Dutzend Jahre später, nach dem Zusammenbruch des ‚‚Tausendjährigen Reiches“, eine deutsche Regierung beherbergen sollte. Aber wir wollen nicht von Politik reden. Die Landschaft war zu schön. Die saftig-grünen Uferauen gingen langsam in die Berghänge über, die fast ausschließlch mit Reben bepflanzt waren. Am 18. Oktober 1933 war die Lese zumeist schon vorüber und die Blätter der Weinstöcke verfärbten sich herbstlich. Jenach Sorte gab es schon ganz gefärbte Stellen, während andere noch grün waren. Nachdem wir in Königswinter angelegt hatten, schlug ich den Weg zum Drachenfels ein. Das Städtchen bestand damals aus wenigen, parallel zum Rhein verlaufenden Straßen, die ich schnell durchschritt. Der Hang zum Drachenfels hinauf war dicht mit Reben bepflanzt, die ich hinaufsteigend jetzt langsamer durchquerte. Die Gegend war menschenleer. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, um auch die Landschaft und besonders den unter mir vorbeiziehenden Rhein zu bewundern. Lange Züge von Lastkähnen zogen flußauf und flußab, geschickt manövrierend, um nicht zusammenzustoßen. Bald kam ich zur Ruine Drachenfels. Die Geschichte von Siegfried ging mir durch den Kopf. Waren diese Sagen doch meine erste Lektüre gewesen, nachdem ich lesen gelernt hatte. War ich nicht blond und blauäugig wie Siegfried und war mein hölzernes Schwert nicht fast genau so gut wie das von Wieland geschmiedet? Nur Hagens Meuchelmord an Siegfried paßte mir nicht in die Geschichte. Doch am Drachenfels kam mir die Erleuchtung: Morgen muß ich das Land meiner Geburt verlassen. Der Geist Hagens ist noch lebendig, seine Nachfolger sind an der Macht und ich muß das Land verlassen, um nicht mit einem Speer zwischen den Schulterblättern zu sterben. Hätte Gott doch alle von dem neuen Hagen Ermordeten wenigstens so sterben lassen! Orpheus Trust Der ,,Orpheus Trust. Verein zur Erforschung und Veröffentlichung . vertriebener und vergessener Kunst“ hat sich in der kurzen Zeit seines Bestehens erheblich entwickelt. Mit einem von der Östereichischen Nationalbank finanzierten Forschungsprojekt konnte eine Datenbank vertriebener und verfolgter Musikschaffender (erfaßt sind bereits über 1.100 Personen) und ihrer Werke aufgebaut werden. Der Verein verwaltet den Nachlaß des Musikers Fritz Spielmann; dient als immer effizientere Vermittlungs- und Informationsstelle über Veranstalter und Musiker, die sich für Exilmusik interessieren; initiierte und organisierte selbst in den letzten Jahren zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen in Wien und anderen Orten. Der Verein wirbt weiter um Mitglieder, die seine Arbeit mit einem jährlichen Beitrag von mindestens 200,- öS (fördernde Mitglieder 1.000,- öS) zu unterstützen bereit sind, weil nur durch Mitgliedsbeiträge und Spenden die Kontinuität der Arbeit aufrecht erhalten werden kann. Öffentliche Förderungen sind ja im wesentlichen an Einzelprojekte geknüpft, die aber nicht durchgeführt werden können, wenn keine Struktur dafür da ist. Zuletzt war ,,Orpheus Trust‘ Mitveranstalter des ,,3. Seminars fiir Klezmermusik“ an der Wiener Hochschule fiir Musik und darstellende Kunst. Im Rahmen der Reihe ‚‚Musik im Exil“ finden im Literaturhaus Wien regelmäßig Vorträge statt. So spricht am 25. November 1998, 20 Uhr, Peri Arndt aus Hamburg iiber ,,Spurensuche im Werk exilierter jüdischer Komponisten“. Ebenda wird am 10. Dezember, 18 Uhr, die Hanns Eisler-Ausstellung der Akademie der Künste zu Berlin eröffnet. Mit Anfragen wenden Sie sich bitte an die Sekretärin von ‚Orpheus Trust“ , Dr. Primavera Gruber, A-1070 Wien, Sigmundg.11/3. Tel.: (+43 1) 5268092. 39