OCR
aus Vertreibung und Vernichtung zogen. Neben den direkten Kanälen existiert auch ein indirekter Zusammenhang: der säkulare Boom, die „Erfolgsgeschichte“ in Deutschland und Österreich, hat in letzter Instanz den Vemichtungskrieg zur Voraussetzung: durch ihn war der vom Kapital nicht verwertbare Überschuß an Arbeitskräften und Produktionskapazitäten beseitigt, die große Krise des Kapitals bereinigt worden; und ohne das totale Feindbild der ‚‚Weltverschwörung des Judentums“, das — in den Vernichtungslagem in die Tat umgesetzt — die Volksgemeinschaft bis zuletzt zusammenschweißte, wäre dieser Krieg nicht zum ‚totalen Krieg“ geworden, nicht bis zur letzten Konsequenz vom Dritten Reich führbar gewesen. Es ist dies ein Zusammenhang, der keineswegs teleologisch verstanden werden darf — in dem Sinne, daß Hitlerund das Dritte Reich mit ihrem Zerstörungswerk bewußt die Voraussetzungen zur Nachkriegsprosperität geschaffen hätten. Eine solche geheime deutsche Geschichtsphilosophie wird ihnen im Nachhinein aus der Perspektive der Nachkriegsgewinnler nicht selten zugeschrieben, unnachahmlich in dem Satz formuliert: „Wenn das der Führer hätte erleben dürfen“. Aber gerade in diesem teleologischen Mißverständnis Kommt unbewußt etwas von jenem, schwer zu fassenden Zusammenhang von Vernichtungskrieg und Nachkriegsboom zutage. Als Jean Améry in den sechziger Jahren durch das Wirtschaftswunderland reiste, spürte er diesem Unbewußten nach: „Ein stolzes Volk, immer noch. Der Stolz ist ein wenig in die Breite gegangen, das sei zugegeben. Er preßt sich nicht mehr in mahlenden Kiefer heraus, sondem glänzt in der Zufriedenheit des guten Gewissens und der begreiflichen Freude, es wieder einmal geschafft zu haben. Er beruft sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es ist der Stolz von einst.” Eine Selbstreflexion der Nachkriegsgesellschaft über ihren Ursprung, wie sie Jean Améry mit seinen Ressentiments einforderte, wird in Bernhards Auslöschung fortwährend angekündigt — aber sie findet nicht statt. Irene HeidelbergerLeonard hat also recht: Bernhard entzieht sich mit Muraus Tod einer notwendigen Auseinandersetzung. Aber er führt sie auch nicht im Heldenplatz, wo er ihr gerade durch die Identifikation mit dem Judentum ausweicht.'? Vielleicht ist Bernhards Übertreibungskunst überhaupt nichts anderes als die Kunst, das eigene Gewordensein und damit die Partizipation an der Kontinuität, am langen Schweigen über die Verbrechen, die er Wolfsegg nennt oder Heldenplatz, auszublenden. Am naheliegendsten scheint dies in seinen autobiographischen Büchern, wo er sich als totales Opfer von Mutter, Stadt und Land stilisiert, das nahezu alle anderen Opfer in den Schatten stellt und das heißt: verschweigt. In der Ursache werden lediglich an einer Stelle „‚fremdländische‘“ Zwangsarbeiter erwähnt, die in Salzburg die Luftschutzstollen „unter unmenschlichen Bedingungen“ in die 42. beiden Stadtberge getrieben haben.'* Im übrigen geht es jedoch um sein eigenes Leid — und dieses wird immer wieder zum Leid aller Landsleute verallgemeinert, wenn etwa vom „Bomben- oder Terrorangriff aufunsere Heimatstadt“ die Rede ist oder von der Besatzungszeit — ein Schulbeispiel fiir das, was Adorno die ,,Schuldumkehr“ nannte: ,,[...] die Amerikaner beherrschten alles. Die Not ist in dieser Zeit eine noch viel größere gewesen [...] Die Stadt war voller Ratten. Die Sexualexzesse der Besatzungssoldaten verbreiteten unter der Bevölkerung Angst und Schrecken [...] nur wenige hatten den Mut und die Kraft, etwas gegen die allgemeine Verzweiflung zu tun. Die Erniedrigung und die auf diese Erniedrigung gefolgte beinahe völlige Vernichtung in jeder Beziehung waren zu total gewesen.” I Thomas Bernhard war also doch ein veritabler Heimatdichter. Seine Texte sind durchtränkt von jenem heroisierten Selbstmitleid, das für Österreich oder Deutschland so symptomatisch ist. Zuletzt aber mündet die Hinwendung zum einst Verdrängten, den jüdischen Opfern, in eine falsche Identifikation, die wiederum jeden Gedanken an eine unbewußte Komplizität mit den Tätern auslöschen soll. Eigentlich ist Bernhard nur an einem einzigen Punkt, in einem einzigen Satz reflexiv: „die Wirklichkeit ist so schlimm / daß sie nicht beschrieben werden kann“. Anmerkungen 1 Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988, 440f. 2 Ebd., 459. 3 Irene Heidelberger-Leonard: Auschwitz als Pflichtfach für Schriftsteller. In: Antiautobiografie. Hg.v. Hans Höller u. Irene Heidelberger-Leonard. Frankfurt am Main 1995, 184. 4 Ebd., 192. Hans Höller meint in Bernhards Darstellung der ,,Abschenkung“ von Wolfsegg sogar eine Ironie zu erkennen, wodurch die groBe geschichtliche Geste in Zweifel gezogen werde und in komischer Zweideutigkeit als moralische Selbstgefälligkeit und Selbsttäuschung Muraus erscheine. (Hans Höller: Thomas Bernhard. Reinbek 1993, 108) Wenn es eine solche Ironie gibt, dann betrifft sie aber unterschiedslos die gesamte Erzählung und hebt auch die Darstellung der Verbrechen in komischer Zweideutigkeit auf. Ebd. Ebd., 648. Ebd., 648. Ebd., 444. Thomas Bernhard. Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main 1988, 296. . 10 Ebd., 198. 11 Thomas Bernhard: Heldenplatz. Frankfurt am Main 1988, 114. 12 Jean Améry: Jenseits von Schuld und Siihne. (1966) Stuttgart 1977, 128. 13 Irene Heidelberger-Leonard interpretiert das Theaterstück selbst nicht. Sie spricht lediglich davon, daß sich Bernhard hier „ganz speziell den jüdischen Opfern des NationalsoziaSAAN lismus [...] und dem auch heute noch florierenden österreichischen Antisemitismus“ zuwende, ohne des weiteren auf die Frage einzugehen, inwieweit ihm hier die in Auslöschung vermiedene Auseinandersetzung geglückt sei. Heidelberger-Leonard, Auschwitz als Pflichtfach, 184. 14 Die Ursache. Salzburg 1975, 29. 15 Ebd., 32 u. 96-99. Tromsö Um den hohen Sommertemperaturen im Lande der Verheißung zu entgehen, beschlossen wir, meine Frau und ich, eine Nordlandreise zu machen. So flogen wir wenige Tage nach Sommerbeginn von Tel Aviv nach Kopenhagen und von dort nach Oslo. Dort sollten wir in ein kleineres Flugzeug umsteigen, das uns nach einer Zwischenlandung in Tromsö in Kirkenes (von Skandinaviern Chirkenes ausgesprochen) absetzte. Diese Stadt ist eine der nördlichsten Norwegens und liegt 10 km westlich von Pasvikelv (Elv-Fluß), der die Grenze mit Rußland bildet. So waren wir nicht erstaunt, als wir auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt an einer Kreuzung einen Wegweiser entdeckten, der in lateinischen und kyrillischen Buchstaben verkiindet: ,, Murmansk 200 km“. Wir hatten auf einem der Postschiffe, die von Bergen nach Kirkenes und wieder zuriick segeln, eine Kajiite gebucht. Unsere Seereise dauerte sechs Tage und Nächte, wir liefen cirka drei Dutzend Häfen an, mit Aufenthalten zwischen 15 Minuten und sechs Stunden. So konnten wir zum Beispiel in Trondheim an einer dreistündigen Stadtbesichtigung teilnehmen, oder von einem anderen Hafen aus mit einem Bus bis ans Nordkap fahren. Da in diesen Breiten die Sonne nicht untergeht, ist es ganz gleichgültig, wann man in diesen Häfen ankommt. Mitternachts ist es ebenso hell wie mittags. So gelangten wir genau um Mitternacht nach Tromsö und schritten vom Hafen der Stadtmitte zu, vor der ein kleiner Park zu sehen war. Ja, was ist denn das? Vor uns erhebt sich eine übermannshohe Steintafel, auf deren oberen Teil ein Davidstern eingemeißelt ist! Und unter ihm eine Reihe von Namen, alles gute jüdische Namen, wie man sie in ganz Europa finden konnte. Am Schluß kommt die Erklärung: Da steht auf Norwegisch: „Zum Andenken an unsere jüdischen Mitbürger, die während des .Zweiten Weltkrieges von den Nazis ermordet wurden.“ Entgeistert lese ich diese Worte in einer dem Nordpol nächstliegenden Städte. Die Tränen steigen mir in die Augen. Die Strophe des Deutschlandliedes ‚Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ wird offiziell nicht mehr gesungen. Doch sollte man nicht ein neues Lied einführen mit den Worten: „Von Gurs bis Sobibor, von Saloniki bis Tromsö sind die Untaten der Deutschen nicht vergessen“ — ? Arie Efrat