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The actor who hoaxed the nazis — das (Uber-)leben des Schauspielers Leo Reuss Schauspielerlegenden gibt es unzählige, doch wohl keine ist so mythisch geworden wie die Geschichte vom jüdischen Schauspieler Leo Reuss, der aus Hitler-Deutschland geflohen und in Wien erfolglos auf Suche nach Beschäftigung, in der Maske des Bergbauern Kaspar Brandhofer sogar den großen Max Reinhardt täuschen konnte. Bis heute wurden und werden immer wieder neue Varianten erzählt, von Wissenden und von Halbinformierten, aber auch der Protagonist selbst wirkte kräftig mit. Erst vor kurzem zeigte das Wiener Volkstheater eine neue Dramatisierung des Stoffes, diesmal von Felix Mitterer, und ein Drehbuch wartet auf Verfilmung. Der Wiener Theaterwissenschafterin Hilde Haider-Pregler ist es zu danken, daß die Lebensgeschichte von Leo Reuss nun in wissenschaftlich fundierter Form vorliegt. Die akribische Recherche aller zugänglichen Quellen ergab eine Dokumentation, die sich liest wie ein spannender Kriminalroman. Neben den Höhen und Tiefen des beruflichen und privaten Lebenswegs erfährt der Leser auch ein Stück Theater- und Zeitgeschichte. Eine Auswahl der Legenden findet sich am Ende des Buches, das durch ein ausführliches Rollenverzeichnis von Reuss’ Theater- und Filmarbeit ergänzt ist. Mauriz Leon Reiss wurde am 30. März 1891 im galizischen Städtchen Dolina als Sohn eines Tierarztes geboren. Wenig später zog die Familie nach Wien, in den Arbeiterbezirk Ottakring, wo man in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Das Theater war der Familie fern, doch ein Deutschprofessor und die sozialdemokratische Jugendbewegung machten Leo Reiss zum begeisterten Stehplatzbesucher. Nach der Matura bestand er die Aufnahmsprüfung für die k.k. Akademie für Musik und darstellende Kunst. Statt ins Engagement nach Troppau mußte der junge Schauspieler jedoch mit den Deutschmeistern im Mai 1915 an die Front nach Galizien. Vor seiner Heirat konvertierte er zum Katholizismus. Sein erstes wichtiges Engagement fand er nach dem Krieg, nun schon unter dem Namen Leo Reuss, an der Neuen Wiener Bühne von Emil Geyer mit Kollegen wie Elisabeth Bergner, Maria Eis und Alexander Moissi. Es folgte ein ,, Lehrjahr“ an den Hamburger Kammerspielen. 1922 ging es weiter nach Berlin, wo fiir Leo Reuss eine politisch, kiinstlerisch und privat sehr bewegte Zeit begann. Er spielte zunächst am Staatstheater unter Leopold Jessner, später an der Volksbühne unter Erwin Piscator, beide politisch engagierte Regisseure und Theaterreformer, die ihm ermöglichten Kunstverständnis und Weltanschauung zu verbinden. Daneben arbeitete er in freien Ensembles, beim Hörfunk und sammelte erste Erfahrungen im neuen Medium Film, das dem Theater zunehmend zur Konkurrenz wurde. In Berlin begegnete Leo Reuss auch der hoch geschätzten Schauspielerin Agnes Straub, die zu seiner wichtigsten Bühnen- und Lebenspartnerin wurde und mit der ihn ein ungeheurer, geradezu 48. fanatischer Arbeitseifer verband. Seine Ehe in Wien wurde geschieden, und er trennte sich von seiner damaligen Gefährtin Ellen Neustädter, die seinetwegen Emil Geyer verlassen hatte. Nach Film- und Theaterarbeit mit Bertolt Brecht und dem Scheitern eines Films mit Erwin Piscator, der in Sowjetrußland gedreht werden sollte, bereitete Leo Reuss die Gründung eines eigenen Theaterunternehmens mit Agnes Straub vor. Das Debüt des ‚Theaters der Schauspieler“ im April 1932 mißlang. Erst im Dezember konnte mit „Automatenbüffet“ von Anna Gmeyner mit dem Regiedebüt von Moriz Seeler ein Erfolg erzielt werden. Mit der Machtübernahme von Adolf Hitler im Jänner 1933 geriet das engagierte Ensemble ins Schußfeld der Nazi-Presse und daraufhin in finanzielle Bedrängnis, was Agnes Straub als renommierte Schauspielerin veranlaßte, ein Telegramm an den Reichskanzler zu richten, in dem sie sich als politisch desinteressiert darstellte, und ihn um Schutz fürihre Arbeit bat. Leo Reuss durfte seit April 1933 nicht mehr auftreten, erwirkte jedoch als ehemaliger Frontkämpfer im Sommer 1933 eine Ausnahmegenehmigung. Das Ensemble konnte nun auf Toumée gehen, deren kiinstlerische und organisatorische Gesamtleitung in den Händen von Leo Reuss lag. Es kam jedoch immer wieder zu Protesten des Publikums wegen des nicht rein arischen Ensembles. Ein für Frühjahr 1935 bereits fixiertes Gastspiel in Wien wurde kurzfristig seitens der Direktion aufgrund der politischen Lage abgesagt. Im Dezember 1931 hatte die Straub ein Landgut in der Nähe von Zell am See erworben, da sie wohl die Gefährdung von Leo Reuss in Deutschland geahnt hatte. Sie Konnte sich jedoch nicht zur gemeinsamen Emigration entschließen und übernahm im Juni 1935 ein eigenes Theater am Kurfürstendamm, wo offiziell ein politisch zuverlässiger Direktor eingesetzt wurde, im Hintergrund agierte jedoch Leo Reuss. Am 15. September 1935 wurden die Nürnberger Rassegesetze erlassen, und es wurde klar, daß Reuss Deutschland verlassen mußte, auch um die Straub nicht zu gefährden. Sie mußte jedoch schon im April 1936 das Theater aufgeben, und obwohl sie noch einige Filmund Theaterrollen erhielt, hatte sie den Zenit ihrer Laufbahn überschritten. Dazu kam noch ein schwerer Autounfall im Herbst 1938, von dessen Folgen sie sich nicht mehr erholte und im Juli 1941 in Berlin starb. Leo Reuss war, als er Wien verließ, ein unbekannter Schauspieler gewesen. Bei seiner Rückkehr im Herbst 1935 konnte er daher auf der Suche nach einem Engagement nicht auf frühere Erfolge verweisen, da man ihn zwar in Theaterkreisen kannte, sein Name aber für das Publikum keine Zugkraft hatte. Überdies waren seit 1933 bereits zahlreiche Schauspieler aus Deutschland remigriert. Ein Engagement an einer Kleinbühne kam aus künstlerischen Gründen nicht in Frage. Auch Österreich befand sich in einer wirtschaftlichen und politischen Krisensituation. Im Frühjahr 1936 zog sich Leo Reuss in die Straub-Villa im Salzburgischen zurück, um sein schauspielerisches Bravourstück vorzubereiten. Da er den lokalen Dialekt beherrschte, fiel es ihm nicht schwer sich mit Vollbart und blondierten Haaren in einen Salzburger Bauern zu verwandeln. Die Probe erfolgte im nahen Salzburg zur Festspielzeit, wo es ihm mit hartnäkkiger Ausdauer gelang, unter dem Namen Kaspar Brandhofer als theaterbegeisterter Bergbauer ein Vorsprechen bei Max Reinhardt auf Schloß Leopoldskron zu erreichen und von ihm eine Empfehlung zu erhalten. Nun entbrannte ein Konkurrenzkampf zwischen Burgtheater und Josefstadt um das angebliche Naturtalent, aus dem schließlich Josefstadt-Direktor Ernst Lothar siegreich hervorging. Vor seinem ersten Auftritt mußte Reuss/Brandhofer jedoch noch die Bühnenreifeprüfung absolvieren. Vorsitzender der Kommission war Emil Geyer, der ihn zwar erkannte, jedoch auf Rache für seine private Enttäuschung verzichtete. Brandhofer feierte sein mit großer Spannung erwartetes Debüt am 2. Dezember 1936 als Herr von Dorsday in der Uraufführung von Ernst Lothars Dramatisierung der Schnitzler-Novelle ,,Fraulein Else“, die dank der Darsteller zum durchschlagenden Erfolg wurde. Während einige Kritiker bereits Zweifel an Brandhofers Identität durchklingen ließen, feierten die NS-nahen Blätter den blonden Germanen. Am 8. Dezember 1936 meldete das Theater jedoch die Enttarnung, worauf in antisemitischen deutschen Blättern ein Sturm der Entrüstung anhob. Außerhalb Österreichs und Deutschlands wurde das Signal jedoch verstanden, das auf die Lage der emigrierten Künstler aufmerksam machen wollte. Nach Ende der Aufführungsserie von „Fräulein Else“ erklärte Ernst Lothar den Vertrag fürungültig. Leo Reuss mußte sich vordem Bezirksgericht wegen Dokumentenmißbrauchs verantworten. Seine Verteidiger legten einen Brief vor, den er vor seinem Biihnenauftritt als Kaspar Brandhofer versiegelt bei einem Anwalt deponiert hatte und in dem er sein Vorgehen als Verzweiflungstat eines Vollblutschauspielers rechtfertigte: ,,Es ist haBlich, weil die Leute, die nicht laut genug schreien können und verurteilen, daß draußen in Deutschland Menschen, die schuldlos sind, vernichtet werden, aus einer seltsamen Mischung von Feigheit und Brutalität, von Gedankenlosigkeit und konjunkturgeschmeidiger Berechnung, von Überheblichkeit und Servilität erst das wahre Vernichtungswerk an jenen vollführen, die noch genug Widerstandsfähigkeit besessen haben, dem von jenen so verurteilten Schlachten ungebrochen zu entrinnen.“ Auf neuerlicher Engagementsuche kam Leo Reuss im Frühjahr 1937 zu den ‚Jüdischen Künstlerspielen“ , nachdem sein Ansuchen um Wiederaufnahme in die Israelitische Kultusgemeinde bewilligt worden war. Er blieb jedoch nicht lange, denn er erhielt einen Vertrag von Metro-Goldwyn-Mayer, da die Hollywood-Bosse von seiner im Brandhofer-Auftritt gezeigten schauspielerischen Wandlungsfähigkeit beeindruckt waren. Im September 1937 reiste er über Paris nach New York, wo man die Brandhofer-Episode zunächst nicht in den Vordergrund spielte, da die USA zu diesem Zeitpunkt noch eine Neutralitätspolitik gegenüber Nazi-Deutschland vertraten. Mitdemihmeigenen