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schrieb Briefe, erhielt Briefe — und erhielt sie auch nicht. Herbert war selbst zum Brief geworden. Man las alles Entsetzen von diesem leblosen Papier, glaubte alles und konnte sich doch nichts vorstellen. Man war nicht dabei. — Und umgekehrt war auch er nicht dabei, hatte keinen Anteil mehr am täglichen Leben, das ohne ihn weiterging.“ Da zeigt ein SS-Mann Menschlichkeit, wogegen die Nachbarschaft auf ihren egoistischen Machtspielen beharrt. Daß Weiß nicht unbedingt Weiß, ebenso wie Schwarz keineswegs Schwarz sein muß — dies demonstriert Gerty Spies mit ihrem Roman, indem sie die Poesie der Alltäglichkeit, die kleinen Dinge des Lebens ins Zentrum rückt. Über jeglichen Verdacht, beschönigend zu verklären, ist Gerty Spies erhaben. Kontrapunktisch dagegen stehen in ihren Text die Aufzeichnungen der Käthe Rottmann, die aus dem Konzentrationslager nicht mehr zurückkehrte. „Bittere Jugend“ ist das exemplarische Beispiel einer literarischen Umsetzung authentischer Gegebenheiten, ein Stück Literatur, dem es gelang, Wahrheiten in eine poetischnarrative Form zu bringen. „‚ Während hinter den waldigen Hügeln, wo die Stadt lag, die Leuchtkugeln auf- und niederstiegen und die Geschosse dröhnend niederfuhren, daß selbst hier draußen Luft und Erde zitterten, wurde in der rauchigen Bauernwirtschaft bis in den Morgen hinein getanzt. Der Wirtssohn war vor wenigen Wochen in Rußland gefallen. Seither soff der Wirt noch mehr als bislang. Die Wirtin trug mit verweinten Augen die Maßkrüge — wie steinerne Blumensträuße — von der Schenke zu den Tischen. Manchmal vergaß sie zu kassieren.“ Gerty Spies erlebte ihren hundertsten Geburtstag und die Publikation ihres Romans als Zeugin einer schrecklichen Epoche. „Bittere Jugend“ ist ihr poetisches Vermächtnis, ein Dokument des Überlebenswillens. Manfred Chobot Gerty Spies: Bittere Jugend. Roman. Hg. von Hans-Georg Meyer. Mit einem Nachwort von Sigfrid Gauch und autobiographischen Notizen von Gerty Spies. Frankfurt/Main: Verlag Brandes & Apsel 1997. 190 S. 6S 181,-/DM 24,80/SFr 24,80. Briefe an Jarmila Zu den raren Menschen, mit denen Egon Erwin Kisch sein Leben lang in regem Briefkontakt stand, gehörte die Pragerin Jarmila HaasoväNecasovä. 1922 hatte er sie im Romanischen Café kennengelernt, sie blieb ein Leben lang „ferne Geliebte“ und zugleich Übersetzerin seiner Bücher ins Tschechische. Am 5. April 1948 schritt sie neben der Kisch-W itwe Gisela und dem letzten der fünf Kisch-Brüder Bedfich in der ersten Reihe hinter seinem Sarg durch die Prager Innenstadt. Aus Berlin und Moskau, aus Nanking und Kyoto, sowie nach 1933 aus Versailles, Bredene und Benicasim flatterten Kischs Briefe nach Prag: Jene aus den 1920er Jahren sind in rastlosem Stakkato hingeworfen. Sie enthalten ein Labyrinth von Vor-, Zu- und Kosenamen gemeinsamer Freunde und geben schwierig zu entschlüsselnden Aufschluß über literarisches Leben in Prag und Berlin, über bislang unentdeckte Kisch-Artikel, über seine Reiseerlebnisse. Dazwischen liegt viel Übersetzungs- und Verlagstechnisches eingestreut, bis zuletzt wurde an Details gefeilt. Auch als Sprachschöpfer bezaubert Kisch, so durch seine Kosenamen (Jarmilko, Jarmilinko, Jarmilininko, Jarmiläku, Jarmiläc), oder wenn er den neugeborenen Sohn Leo Lanias als ,,betam Gojicek“ (Tschechisch und Jiddisch gemischt ergibt dies einen ‚„‚wohlgeratenen kleinen Nichtjuden “) bezeichnet. Über Politik und das aktuelle Zeitgeschehen ist weniges, oft nur in Andeutungen zu erfahren. Das änderte sich auch nach 1933 nicht. Nur der ,,Dalles“ (Geldmangel) wird häufiger, oder die Erwähnung, daß Briefe verloren gegangen, sprich abgefangen worden sind. Ein merkbarer Bruch erfolgte nach Kischs Rückkehr aus Australien: einerseits machten ihm die Schmerzen im dort gebrochenen Bein zu schaffen, andererseits die in Europa unglaublich komplizierte Recherche den Fünften Kontinent betreffend. Kisch klagt, daß er in seiner Heimatstadt Prag immer wieder totgeschwiegen oder auch heftig attackiert werde. Mehrals einmal betont er, daß ihn die kritischen Artikel weit mehr interessieren als Lobeshymnen. Immer öfter springt auch Gisela ein, ergänzt und übernimmt mitunter die Korrespondenz. Ende September 1938 bricht der Fluß der Briefe ab, die letzten zwei konnten erst nach dem Krieg von Mexiko und New York dem Autor voraus den Weg über den Atlantik finden. Die Edition ist opulent und mit zahlreichen Fotos versehen. Der Herausgeber Klaus Haupt war vier Jahre Korrespondent des ‚Neuen Deutschland“ in Prag, wo ihm Jarmila kurz vor ihrem Tod alle Originale der Briefe und zahlreiche Kisch-Widmungsexemplare zu treuen Händen überantwortete. In seinem Vorwort wird Kisch als Herzensbrecher und ,,womanizer“ porträtiert, ein in dieser Simplifizierung befremdendes Umschlagen des Kisch-Bildes vom Reporter zum Boulevard. Zu DDR-Zeiten konnte Kisch nicht politisch genug gesehen werden. (Was aber zu ergänzen wäre: Jarmila aus Prag war neben Gisela aus Wien nicht die einzige “große Liebe“ im Leben des Egon Erwin Kisch: Wie Bedfich Kisch vor Jahren einmal Josef Polalek mitteilte, hatte Egon Erwin im Wien von 1918 eine uneheliche Tochter, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Namen von Mutter und Tochter sind unbekannt und auch die Briefe an sie verschollen.) Das Buch enthält ein am Seitenrand parallel laufendes Kurzregister, in dem der Herausgeber zahlreiche Namen und tschechische Begriffe entschlüsselt. Insofern hat er Großes geleistet. Hinzu kommen eine ausführliche Lebenschronik, nur das abschließende kommentierte Personenregister hinterläßt mitunter Ratlosigkeit: Bei Gustav Regler wird mit keinem Wort erwähnt, daß er lange Jahre ein enger KischFreund war, bis es 1942 in Mexiko zum für beide überaus untergriffigen und schmerzhaften Bruch kam. Über die Kisch-Freunde Max Hoelz und Willi Münzenberg heißt es, sie seien „unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen “, wobei in beiden Fällen eine Ermordung durch den sowjetischen Geheimdienst überaus wahrscheinlich ist. Münzenberg wird als der große Medienzar dargestellt. Ohne Zweifel trifft dies auf die Hauptseite seiner Tätigkeit zu, verschwiegen wird jedoch sein offener Bruch mit Stalin 1937, wodurch er menschliche Größe bis zur physischen Selbstaufgabe bewies, zu der nicht einmal ein Egon Erwin Kisch fähig war. Die Gründung der DDR hat Kisch nicht mehr erlebt, dennoch wurde er dort viel gelesen-teils weil er vom „‚Neuen Deutschland“ zum ParteiReporter stilisiert wurde, teils weil Kisch von der großen weiten Welt erzählte, in die man nicht reisen durfte, ferner von Räubern, Rebellen, Freiheitshelden. Marcus Patka Egon Erwin Kisch: Briefe an Jarmila. Hg. und | mit einem Nachwort versehen von Klaus Haupt. Berlin: Das Neue Berlin 1998. 304 S. Die Irren und die Mörder Durch einige Jahre beunruhigte ein ‚‚verrückter steirischer Bombenbastler“ (als solchen bezeichnete ich ihn gleich nach seinem ersten Attentat) mit einer von ihm erfundenen ,,Bajuwarischen Befreiungsarmee“ die österreichische Öffentlichkeit. Er beunruhigte nicht nur, er mordete auch. In den in MdZ Nr. 1/1995 veröffentlichten Aufsätzen von Renata Erich und AnnaMitgutsch wurden zwar keine fruchtlosen Vermutungen über die Identität der Täter angestellt, die Morde an den Romas von Oberwart aber als Symptom der politischen und gesellschaftlichen Zustände in Österreich gewertet. In der breiten Öffentlichkeit hingegen wurde zumeist die Existenz einer rechtsextremen Terrorgruppe befürchtet; das Oberhaupt der österreichischen Rechtsextremen, Jörg Haider, seinerseits versuchte den Verdacht auf den ihm unbequemen Journalisten Wolfgang Purtscheller zu lenken, ein Manöver, das den darin involvierten Beamten des Innenministeriums seine Stellung kostete. Statt eine Verschwörung von älteren und gebildeten Neonazis aufzudecken, ging der Polizei schließlich eher zufällig der mutmaßliche ‚‚Einzeltäter‘“ (ein Wort, das seitdem mit besonderer Betonung gesprochen wird) in die Netze — Franz Fuchs aus Gralla in der Südsteiermark, ein, allem Anschein nach, verschrobener und kontaktarmer, jedoch technisch befähigter arbeitsloser Junggeselle mittleren Alters, der mit seinen nichtsahnenden Eltern unter einem Dach hauste. Walter Wippersbergs Buch wurde von manchen Rezensenten, darunter dem vormaligen österreichischen Innenminister und jetzigen Wissenschafts- und Verkehrsminister Caspar Einem (in 51