OCR
Aber was ist mit den heutigen Demokraten? Lassen sie ausgleichende Gerechtigkeit walten? Veröffentlichen sie diese Statistiken? Fast unbemerkt ist es dem im Sterben liegenden KGB im letzten Moment der Sowjetunion noch gelungen, die nationalistische Organisation Pamjat zu gründen. Die rechts-nationalistische Freiheitspartei von Schirinowsky wurde ins Leben gerufen und Allianzen wie ,,Otetschestwo (Heimat) haben sich darauf verlegt, die Protokolle der Weisen Zions zu verbreiten. Aber vielleicht ist den Demokraten das alles doch nicht entgangen, sondern sie haben gefallen daran, weil sie unter der Hand wieder die Schuld an Mißerfolgen und Blamagen auf dem ewigen Sündenbock abgeladen werden kann. Heutzutage trifft sich der russische Ministerpräsident Tschernomyrdin mit dem US-Vize auf Stalins Datscha, unter einem Bildnis des Diktators, der den Antisemitismus zur Staatspolitik erklärt hatte. Dies alles spiegelt sich natürlich im Schicksal und in der Arbeit der jüdischen Literaten in Rußland wieder. Ein Beispiel aus meinem eigenen literarischen Leben. Das Thema Juden ist heute in Rußland deutlich unerwünscht, es liegen praktisch keine Publikationen vor. Mein Roman Ich Sünder mit den Worten der Wahrheit war 22 Jahre lang verboten. Erst unter Gorbatschow wurde er im Moskauer Mysil-Verlag, durch Eigenfinanzierung des Autors, in einer Auflage von 3000 Stück herausgegeben. Er ist der erste Teil der Trilogie Von den Mauern Jerusalems, die das Schicksal der Juden im alten Rußland behandelt. Für dieses Buch wurden seltenes, bisher unveröffentlichtes Archivmaterial genutzt, das aus Schubladen stammt, die jetzt für die Öffentlichkeit schon wieder geschlossen sind. Auszüge aus der Trilogie wurden in russischsprachigen Zeitschriften in Israel und in den USA veröffentlicht, aber das ganze Werk wartet bis heute noch auf einen Verleger. Mich fragt man: ,, Welche Nationalitit haben sie?“ Ich antworte: ,, Der Mensch hat die Nationalität, in deren Sprache er denkt“. Ich denke auf Russisch. Es tut mir weh, daß die literarisch-histotischen Werke über Rußlands Juden in meinem Land unerwünscht sind. So ist es jetzt schon unter den Demokraten. Was wird sein, wenn Sjuganow und seine Anhänger an die Macht kommen? Aber mir ist jetzt schon klar, was dann passieren wird. Fünfzig Jahre Leben in Rußland geben mir das Recht, diesen Artikel zu schreiben. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, die dunklen Ecken der Geschichte auszuleuchten, aber sie dabei nicht zu verändern. Die Menschen sollen im vollen Licht sehen. Genau dieses Licht, das Licht der Wahrheit, könnte den Antisemitismus bekämpfen. Dreihundert Jahre schrecklichster Unterdrückung in Rußland durch das mongolisch-tartarische Joch, haben beim russischen Volk keinen Haß und keine Mißgunst, weder gegenüber den Tartaren noch den Mongolen hervorgerufen. Aber auf die Juden, die ihr eigenes Blut gelassen haben, damit Rußlands Kultur Weltniveau erreicht. Das russische Paradoxon! Ein Mittel gegen den russischen Antisemitismus hat der grosse russische Schriftsteller Saltykow-Schtschedrin vorgeschlagen: Der Antisemitismus wird verschwinden, wenn die Menschheit menschlich wird. Menschlichkeit, Liebe und Wahrheit — das ist das Rezept für die Erlösung von der Judenfeindlichkeit. Doch davon ist Rußland noch sehr weit entfernt. Aus dem Russischen von Eva Kirchheim Valerij Nikolaewskij, geboren 1939 in Moskau, Literaturprofessor in Togliatti, seit den 1960er Jahren auch Regisseur und Schriftsteller, durfte seine Bücher ab 1970 in der Sowjetunion wegen der von ihm gewählten Themen (Juden in der Geschichte Rußlands, Antisemitismus) nicht mehr veröffentlichen; 1976 inhaftiert; erst zur Zeit Gorbatschows wurden die Romane ‚Der schreckliche Patrizier“ und ‚Ich Sünder mit den Worten der Wahrheit“ in Rußland und Israel in großen Auflagen verbreitet. Nikolaevskij, Träger mehrerer Literaturpreise, lebt seit 1996 in Wien, ist Mitglied des Israelischen Schriftstellerverbandesund des Österreichischen PEN-Clubs. 1997 stellte er in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur sein von Liesl Ujvary übersetztes Romanfragment ,,Der König der Moskauer U-Bahn“ vor. Im April 1999 erscheint sein erstes Buch auf Deutsch beim Löcker Verlag in Wien: „‚Kreml-Geheimnisse. Aus den geheimen Archiven des KGB“. Derzeit schreibt Valerij Nikolaewskij an einem neuen Roman ‚Her aus Rußland“. Die Arbeit an dem Buch wird wesentlich durch den Verein KulturKontakt, Wien, gefördert. Werke: Die Leuchte von Pawlowsk (Sachbuch, 1967); Über die fernen Länder (Sachbuch, 1967); Die Republik der Jugend (Sachbuch, 1969); Das Kinderbuch (Moskau 1969); Silhouette (Moskau 1986); Der schreckliche Patrizier (Moskau 1989, 1990, 1995; Jerusalem 1991; Togliatti 1 994); Ich Sünder mit den Worten der Wahrheit (Moskau 1990). Außerdem Gedichte, Essays und literaturwissenschaftliche Arbeiten in russischen, USamerikanischen und israelischen Zeitschriften und Zeitungen. Arno Reinfrank Kinderarmee Der kleine Junge hat einen Hungerbauch. Der Hunger ist ein großer Offizier. Der Offizier verschenkt Soldatenmützen. Der Junge ist jetzt ein kleiner Soldat. Kleine Soldaten löffeln kleine Portionen. Der große Offizier verteilt Suppe und Waffen. Der kleine Soldat schleppt eine Maschinenpistole. Ein Huhn kostet mehr auf dem Markt. Der große Offizier predigt das Morden. Er lobt das Erschießen der Eltern. Der kleine Soldat zeigt seinen Mut. Der große Offizier lobt den Verwaisten. Der große Offizier wird ihm Vater. Vorm kleinen Soldat zittern die Waffenlosen. Er darf die Erschossenen berauben. Er füllt sich den Hungerbauch. Der kleine Soldat erklettert den Jeep. Er fährt mit dem Großen dem Reichtum entgegen. Der große Offizier ist umgeben von Kindern. Auf dem Foto lachen seine Lippen: Ein Familienvater bespritzt mit Blut.