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Geht nicht aus der Bub, reist im Internet, stundenlang, vergißt den Hunger, Durst, wird körperlos. Vergißt sich nicht, schlägt Tennis, hält sich heil und auf der Höhe. Im Winter schaufelt er vor unserem Mietshaus den Schnee beiseite, frihmorgens schon. Und heuer, gleich nach Schulschluß, den ersten Ferienjob — irgendetwas. Vielleicht in der Tourismusbranche, irgendwo in den Bergen. Weit weg! Das wäre zu schön. Tränen ätzen ein Netz in meine Augenschatten. Ich möchte zu mir kommen, mich fassen. Ich muß zu mir kommen, mich halten, festhalten. Faust im Gesicht. Wieder schlug er gezielt, hinterließ keinen Abdruck, schlug mich stumm. Und später schützt mich nur ein Lächeln. Das Lächeln vor dem bösen Blick, ganz unauffällig. Gebogene Mundwinkel, Schultern gerade gekrampft, kein einziges Wort. Nein, darüber zu keinem auch nur einen Ton. Man könnte aber doch etwas machen dagegen. Ihm den Hals umdrehen, mit bloßer Hand, schnell und überlegen. Man könnte sich einfach vergessen. Endlich Schluß machen, abtöten, kompostieren. Und wieder zur Ruhe kommen, wieder durchschlafen. Man kann es nicht. Kein Gift, kein Hammerschlag, ihn nicht aussetzen oder einfach — mit irgendeiner Ausrede — abgeben. Nichts fertigbringen, abschließen, weil man zu weich ist. Der frißt mir meinen Nachtschlaf weg, beißt in seine Gitterstäbe, hastet, knabbert, kriecht und wühlt. Aber auch der hat einen Namen, nur von mir läßt er sich streicheln. Manchmal stecke ich ihm einen saftigen Ast durch das Gitter, daran turnt er hinauf und hinunter, ganz versessen. Dann zernagt er das Holz zu Splittern, frißt es genüßlich auf. Zweimal in der Woche trage ich den Dreck weg, streue Sägemehl und baue eine Höhle aus Watte. Nüsse, Obst, Getreide, auch Joghurt. Immer frisches Wasser. Ich berühre ihn gerne. Weiches, warmes Fell, flinke Knopfaugen. Nein, ich werde zu allem ja sagen. Mich nicht mehr erinnern, schon gar nichts ahnen. Transport ist ein Wort, Viehwaggon ebenfalls, und der Lagerkommandant war auch ein Mensch. Mauthausen liegt bei Linz, Ebensee im Salzkammergut — mehr bleibt da doch überhaupt nicht. Treblinka, Ravensbrück, Dachau: Ortsnamen. Vielleicht Ausflugsziele? Standpunkte. Und? Nach Ausschwitz haben auch die Österreicher weitergedichtet, nur eben weniger gereimt. Das bricht den Rhythmus nicht unbedingt. Alles doch längst vorbei. Das Gras wächst so schnell, wirklich lautlos, Holz verfault. Haare und Kinderspielzeug, Schuhe und Krücken — wird einfach vermodern, vergehen, wird ganz einfach bald nicht mehr sein. Bald nicht mehr wahr sein? Das Leben, aber eben nicht nur das Leben, ab gespult, wie Garn von der Spindel. Als hätte man etwas in der Hand. Und Begriffe versagen, die Orte versinken. Jetzt reizen andere Wörter. Ja, ich werde nein sagen. Weil diese Zeit nicht vergeht. Und ich werde mich erinnern, mir die Ahnung erlauben. Auch wenn die Dinge vermodern, das Kreuz mit den Fangbeinen bleibt. Man sprüht es auf, klebt es an, man sticht es sich gar in die Haut. Auch das Heil ist geblieben, das Schreien, die Schießübungen, der Stechschritt. 14 Aber einmal ganz alleine sein. Nicht nacharbeiten, aufputzen, nichts besorgen — und keinem etwas nachtragen. Den Bus nicht mehr erreichen müssen, kaltes Abendbrot, die Schmutzwäsche liegen lassen. Schlichtweg unerreichbar, ziellos verreist, nicht da. — Wenn ich eine Ausbildung gemacht hätte. Rotes Segeltuch, salziges Wasser, Wein und Heringe. Oder weich fällt der Schnee, bedeckt meinen Mantelkragen, die Augenwimpern, deckt alles zu. — Wenn der Kindsvater mich geheiratet hätte. Sand zwischen den Zehen, ein Mietwagen, Lachs in Blätterteig. Schwarze Steghose, bunter Parka, bemalte Lippen. Auf Schiern, einer Rodel, im Pferdeschlitten. Und Sturm, mächtiges Durcheinander. Gastfreundliche Umsicht, ein Frühstück im Bett. — Wenn ich je Geld gehabt hätte, einen Groschen zuviel. Oder wenigstens Wochenendausflüge ins Blaue, Grüne, Lichtere. Mit Piknikkorb und Patchworkdecke. Nichts. Nur femgesehen, Radio gehört, viel gelesen. Erst einmal im Leben den Koffer gepackt. Mit fliegenden Händen, voller Angst, in heller Freude. Dann schnell ab in die Klinik. Frühgeburt, aber gesund. Ein prächtiger Bub. Nun erwarte ich sie immer. Immer sprungbereit, angespannt, immer in Abwehr. Sie kamen zu mir, setzten sich an meinen Tisch, sie zogen die Mäntel nicht aus. Die kamen und erzählten Geschichten vom Bub. Man redet ihm übel nach. Man hat ihn vernommen, die Fingerenden auf ein Schmierkissen gedrückt. Und ich weiß nichts. Und ich weiß nicht wirklich worum es geht, aber das habe ich den Beamten nicht gesagt. Ließ meine Zigarette im Mund, nickte, wollte Kaffee aufbrühen. Nur herumrennen, mir die Anspannung aus dem Leib treten — etwas tun eben. Nichts das heißt: Wiederbetätigung. Nichts verstehe ich nicht. Die durchsuchten sein Zimmer, ja die ganze Wohnung. Hefte haben sie mitgenommen, Bücher, auch eine Fahne, die lag unter dem Bett meines Sohnes. Und dann den Kellerraum - versiegelt! Vor den Augen der Nachbarn. Dort bastelt der Bub, spielt sich gelegentlich. Herrgott, wie ich mich schäme. Ich ließ mich gerne für dumm verkaufen — und dachte, der Preis sei nicht hoch. Ich habe den Hamster nie herumrennen lassen — und dachte, so macht er weniger Dreck. An Gitterstäbe beißen, sich in Watte verkriechen, fressen was man dir eben so gibt. Hamster laufen nachts im Rad. Susanne Rasser, geboren 1965 in Rauris, veröffentlichte bisher zwei Lyrikbände, erhielt mehrere Literaturstipendien, war Stadtschreiberin in Linz und Radstadt. Den Rauriser Förderungspreis für einen unveröffentlichten Prosa-Text erhielt sie heuer zwar nicht, wohl aber empfahl die Jury, die von ihr und von Alexander Viehauser eingereichten Texte „bestmöglich zu fördern“, vor allem indem man sie einem sachkundigen Publikum zur Diskussion vorlege. Uraufgeführt wurde bei den heurigen Rauriser Literaturtagen am 20. März ihr unter Obdachlosen spielendes Theaterstück ‚„ Nacht“.