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Beatrix Müller-Kampel Im Wien des Jahres 1920 grassiert der Hunger — auch und gerade unter den Kindern, wie sogar der amtlichen ‚‚Wiener Zeitung“ vom 11. Jänner zu entnehmen ist. Von einem Hilfskomitee in Mantua geht die Rede, das 450 hungernde und kranke Kinder in Familien oder ‚Kolonien‘ aufnehmen will; von Dänemark, das die Stadt Wien mit Lebensmitteln, vor allem mit Milch und Lebertran beschenkt; und von den Breslauer Theaterleitungen, die ‚unter der Devise ‚für die hungernden Wiener Kinder“ Wohltätigkeitsvorstellungen ankündigen.' In ein ganz anderes Wien, ein Wien ökonomischer und kultureller Prosperität, sozialer und ideologischer Wachheit, religiöser und politischer Offenheit wird an jenem 11. Jänner 1920 Peter Heller hineingeboren. Sein Vater Hans Heller, Zuckerwarenfabrikant, Schriftsteller und, obwohl Großindustrieller, überaus empfänglich für marxistische und psychoanalytische Ideen, pflegt den Gedankenaustausch mit der künstlerischen und literarischen Avantgarde der Zeit (in literarischen Belangen holt er stets den Rat seines engen Freundes Alfred Polgar ein).? Auch miitterlicherseits werden Peter Heller Kultur und Intellektualität in die Wiege gelegt: Im Salon der Großmutter gehen Joseph Alois Schumpeter und György Lukäcs aus und ein; die Mutter Margarete, die als Kind mit ihrem Vater Leopold Steiner, einem leitenden Angestellten der Skoda-Werke, nach Wien gekommen ist und später Drehbücher schreiben wird, weckt das Interesse für den Film. Die jüdische Religion spielt im assimilierten Hause Heller keine Rolle — eher sogar eine negative, in dem Sinne, daß die Eltern überzeugte Atheisten sind und ein humanistisches, atheistisch-aufgeklärtes Verständnis von der Welt pflegen. Den Sohn (ein Einzelkind) lassen Hans und Margarete Heller vorerst die evangelische Volksschule am Karlsplatz, im Alter von acht bis zwölf die ganzheitlich-psychoanalytisch versierte Privatschule von Anna Freud und Dorothy Tiffany-Burlingham* besuchen. Bereits damals lernt Peter Heller seine spätere erste Ehefrau Katrina Ely Burlingham, Tochter Dorothy Burlinghams und als solche sozusagen Mitglied der ‚Royal Family“ der Schule, kennen. Der wache Verstand und die frühen literarischen Neigungen des Kindes erfahren nun auch in der Schule umfassende Förderung — u.a. durch den Freud-Schüler und späteren führenden Vertreter der Jugendpsychologie Erik Homburger Erikson?, damals Lehrer an der Burlingham-Schule. (Knapp sieben Jahrzehnte danach widmet ihm Peter Heller, der sich Zeit seines Lebens mit den Lehren Freuds, dessen Schülern und darunter v.a. mit der Ideenwelt Eriksons auseinandersetzen wird, den Aufsatz ‚‚Erikson on Luther”). Infolge der schwierigen Trennung der Eltern wird Peter Heller „ein problematisches Kind“ (wie er sich selber bezeichnet), weshalb ihn der Vater, bei dem er nach der Scheidung lebt, zwischen 1929 und 1932 zu Anna Freud in die Analyse schickt. Auch Anna Freud ermuntert Peter bei seinen literarischen Versuchen und macht die Gedichte, welche der Kleine ihr während der Sitzungen zeigt, zum integrierenden Bestandteil der Analyse. So wächst der Industriellensohn ,,im Glauben an die Psychoanalyse und den Marxismus“ heran. Freilich sollte sich angesichts der später v.a. in den USA und seit den 1960er Jahren auch in Europa grassierenden Freud-Orthodoxie Hellers ursprüngliche Haltung des gläubigen Parteigängers zu jener des „ambivalenten Ex-Patienten“ wandeln’ - den die Beschäftigung mit den Erkenntnisund Verwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse gleichwohl nie losließ. Rund 20 Publikationen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Zivilisation, Ideengeschichte, Literatur und einzelnen Autoren, darunter der 1983 auf deutsch vorgelegte, später auch auf englisch und französisch erschienene Erfahrungsbericht „Eine Kinderanalyse bei Anna Freud (1929-1932)”® zeugen vom ständigen und inständigen Bemühen, den Erkenntnismöglichkeiten der Psychoanalyse für humanistisch erweiterte und vertiefte Menschenbilder nachzuspüren” - jedoch auch dem „anti-wissenschaftlich gesinnten Kult und Orthodoxismus“ ihrer fundamentalistisch-dogmatischen Jünger entgegenzutreten. 10 Ab dem zwölften Lebensjahr besucht Peter Heller das Realgymnasium in der Diefenbach-Gasse im 15. Bezirk — und muß sich „‚sehr plagen“. Die Interessen des Heranwachsenden verlagern sich — zum Ärger des Vaters - vom Geistig-Literarischen zu Tap Dancing, Flirten und Bällen, zu Schilaufen, Musik und Klavierspielen. Nach wie vor betrübt, beängstigt und beirrt den jungen Mann die problematische Beziehung zur Mutter, die ihm zuweilen aus Berlin kommend einen eiligen Besuch abstattet und re Peter Heller, geboren am 1.11. 1920 in Wien, gestorben am 7.11. 1998 in Williamsville, N.Y. Alle Fotos: Nina Jakl,1997 21