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Vladimir Vertlib Belgien hat Probleme. Dies ist schon bei oberflächlicher (und erst recht bei etwas eingehender) Betrachtung der Zustände in diesem Land erkennbar. Wirtschaft und Gesellschaft haben die schmerzvollen ,,Strukturanpassungen“ der letzten Jahre noch nicht überwunden, die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch, die Kriminalitätsrate ebenfalls. Große Teile des politischen Establishments und der Beamtenschaft sind korrupt (die Affäre Dutroux war nur die Spitze des Eisbergs), Brüssel hat in vielen Vierteln das Flair einer postsozialistischen Großstadt, und wer in Antwerpen auf Französisch einen Cafe au lait zu bestellen wagt, wird sein blaues Wunder erleben... Eigentlich gibt es dieses Belgien als Einheit gar nicht mehr. Was die drei seit 1993 weitgehend unabhängigen Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel verbindet, sind das Königshaus, ein Mindestmaß an politischem Pragmatismus (die Belgier wären gerne dem tschechoslowakischem Teilungsmodell gefolgt, gäbe es da nicht das zweisprachige Brüssel, das Flamen und Wallonen als heimliche Hauptstadt ihres jeweiligen Landesteils ansehen) und vor allem die nicht enden wollenden Querelen um Kompetenzen. Der für das Land schon seit Jahrzehnten typische Streit um nationale Empfindlichkeiten erreichte letztes Jahr einen unrühmlichen Höhepunkt. Stein des Anstoßes: das nach seinem wichtigsten Proponenten, einem konservativen Politiker, benannte ‚‚Dekret Suykerbuyk“ — ein vom flämischen Parlament im Juni 1998 mit den Stimmen der christlichsozialen CVP, der nationalistischen Volksunie und des rechtsradikalen Viaams Blok beschlossenes Gesetz. Es sieht eine jährliche finanzielle Unterstützung in der Höhe von 20.000 Franken (etwa 7.000 Schilling) für Opfer des Zweiten Weltkrieges vor, die heute am oder unter dem Existenzminimum leben und deren Notsituation (aufgrund von erlittenen Verletzungen, nicht abgeschlossener Ausbildung, Verlust von Vermögenswerten, u.ä.) als Spätfolge des Krieges angesehen werden kann. Der Unmut viele Belgier — insbesondere in Wallonien und in Brüssel — entzündete sich an der Definition des Begriffes ,,Opfer des Krieges“. Darunter fallen nämlich nicht nur ehemalige Soldaten, Widerstandskämpfer, politisch undrassisch Verfolgte oder einfach nur alle, die unter der deutschen Besatzung in den Jahren 1940 bis 1944 zu leiden hatten, sondern auch ehemalige Nazikollaborateure, die nach der Befreiung ‚‚Repressionen erleiden mußten“. Dies gilt zwar nur für jene, die vor Gericht gestellt, aber später rehabilitiert oder begnadigt wurden, doch hatte man gerade in Flandern (im Unterschied zu Brüssel oder Wallonien) die meisten Verfahren gegen Kollaborateure noch in den 40er Jahren eingestellt. Der Großteil der 34. Verurteilten wurde begnadigt. Bis 1960 waren alle auf freiem Fuß. Jüdische Organisationen, die Vereinigungen ehemaliger Widerstandskämpfer und KZOpfer sowie die meisten wallonischen Politiker griffen das „Dekret“ scharf an. Flämische Politiker, allen voran CVP-Mann Suykerbuyk selbst, konterten mit dem Hinweis auf die „Exzesse der Nachkriegszeit“, unter denen auch viele Unschuldige zu leiden gehabt hätten. Das Gesetz sollte zu einer „längst überfälligen Versöhnung“ ehemaliger Gegner beitragen. Da spielte es keine Rolle, daß das flämische Parlament seine Kompetenzen überschritten hatte. Laut belgischer Verfassung fällt nämlich alles, was direkt oder indirekt mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen zu tun hat, in die Kompetenz des Bundes und nicht der Regionen. Der Verfassungsgerichtshof in Brüssel (Cour d’Arbitrage) prüft derzeit die Rechtmäßigkeit des umstrittenen „‚Dekrets“. Da es sich um ein schwebendes Verfahren handelt (das aller Wahrscheinlichkeit nach noch Monate in Anspruch nehmen wird), hat die flämische Regierung von dem Erlaß von Durchführungverordungen für das Gesetz vorerst Abstand genommen. Der niedrige Betrag von 20.000 Franken zeigt aber ohnehin, daß es den flämischen Abgeordneten mehr um politische Symbolik als um einen humanitären Akt ging. Die Geste, mit der Naziopfer und Nazisymphatisanten gleichermaßen als „Opfer der Geschichte“ in einem Atemzug genannt wurden, war skandalös genug. Daß die beiden konservativen Parteien CVP und Volksunie sogar auf die Hilfe des rechtsextremen Vlaams Blok nicht verzichtet hatten, um ihr Gesetz im Parlament durchzubringen, war jedoch ein nicht minder erschreckendes Signal, hatte es doch bis dahin eine Übereinkunft aller demokratischen Kräfte im Land gegeben, den Vlaams Blok politisch zu isolieren. Mit rassistischen und fremdenfeindlichen Parolen sowie mit Angriffen auf Homosexuelle trägt der Vlaams Blok eine eindeutig faschistische Ideologie zur Schau. Die Zustimmung zu der im Dekret implizit enthaltenen Geschichtsrevision scheint in Flandern jedoch über das konservative und rechtsextreme Lager hinauszugehen. Sozialdemokratische und grüne Abgeordnete hatten die Gesetzesvorlage ursprünglich ebenfalls befürwortet und erst später — wohl mehr aus taktischen Gründen, denn aus Überzeugung — ihre Meinung geändert. \ In Wallonien wurde das „Dekret“ hingegen von allen politischen Parteien abgelehnt, was in nicht unwesentlichem Maße mit dem unterschiedlichen Selbstverständnis beider Völker in Bezug auf die eigene Rolle während der Okkupationszeit zu tun hat. Während die wallonischen Kollaborateure nach der Befreiung als Verräter gebrandmarkt, verfolgt oder sozial geächtet wurden, brachte man in Flandern den Nazisympathisanten viel mehr Verständnis entgegen. Oft sah man sie als irregeleitete — vielleicht etwas unbedarfte — Patrioten an, die nur das Wohl des Landes im Auge gehabt hatten. Schließlich war vor 1940 die Dominanz der französischsprachigen Führungsschicht im dreisprachigen Belgien immer noch sehr stark gewesen. Konnte die deutsche Besatzung die Emanzipation des flämischen Volkes nicht beschleunigen, dachte so mancher „Patriot“ nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, oder gar zur Schaffung eines großniederländischen Staates beitragen, der die Niederlande, Flandern und Brüssel umfaßte? Schon während des Ersten Weltkrieges, als deutsche Truppen ebenfalls in Belgien einmarschiert waren, hatten die Okkupanten die ihnen ,,art- und sprachverwandten‘ Flamen gegenüber den Wallonen bevorzugt. Manche Flamen sahen die Nazis nur als notwendiges Übel, dessen man sich bediente, um eigene Ziele zu erreichen. Viele wurden jedoch Mitglieder der flämischen Nazipartei, der Deutsch Vlaamse Arbeid Gemeenschap, genannt ,,De Vlag“, waren an zahlreichen Verbrechen, zum Beispiel an den Judendeportationen, beteiligt oder kämpften als Freiwillige der Waffen-SS an der Ostfront. Genützt hat es ihnen letztlich nichts. Die deutschen Herren hatten für Flandern weder eine Selbstverwaltung und schon gar nicht eine Vereinigung mit den Niederlanden vorgesehen. Nach dem Krieg hieß es, sich wieder für eine größere Autonomie im Rahmen des belgischen Staates einzusetzen. Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Kollaborateure erschienen unangebracht. Die Nation sollte nicht durch eine ‚unnötige Vergangenheitsbewältigung“ entzweit und somit geschwächt werden. Diese Vorstellung von einem „geeinten Volk“, das sich seine nationalen Rechte gegen das französischsprachige Establishment mühsam erkämpfen mußte, ist auch heute noch im Bewußtstein vieler Flamen tief verankert. Da ist man viel eher bereit jemandem zu verzeihen, der mit dem Teufel paktierte, wenn er dabei nur das „richtige“ Ziel vor Augen hatte. In den Jahren nach dem Krieg kamen mehrere tausend belgische Nazis ins Gefängnis, etwa 3.000 wurden zum Tod verurteilt, 242 Personen hingerichtet, die überwiegende Zahl davon allerdings in Wallonien und in Brüssel, wo man mit den ,,Collabos“ bei weitem nicht so zimperlich umging wie im Norden. Als die besseren Antifaschisten kann man die französischsprachigen Belgier wohl trotzdem nicht bezeichnen. Auch dort hatte es 1940, vor allem unter rechtsgerichteten Intellektuellen, eine große Sympathie für Hitlers „Neuordnung Europas“ gegeben. Die Widerstandsbewegung war in ganz Belgien stark. Insbesondere die Rassenpolitik der Nazis stieß auf wenig Gegenliebe. Immerhin überlebte mehr als die Hälfte der 65.000 belgischen Juden — meist in Verstecken — die Zeit der deutschen Besatzung. Auch der Vater von