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Hugo Schiltz, eines führenden Politikers der konservativen Volksunie, hatte in seinem Keller Juden versteckt, obwohl er als nationalbewußter Flame lange Zeit mit den Deutschen sympathisierte. Schiltzs älterer Bruder war Angehoriger der Waffen-SS. ,,Die Situation war absolut schizophren“, erklärte der Politiker in einem Interview mit der französischsprachigen Zeitung Le Vif. Das ,,Dekret Suykerbuyk“ hat jedenfalls zu einer noch größeren Spaltung zwischen dem Norden und dem Süden Belgiens geführt. Die Fronten sind verhärtet. Ob das Dekret, wie manche hoffen, über die Grenzen der Regionen hinweg zu einem notwendigen kritischen Diskurs über die Zeit der deutschen Besatzung und die Jahre danach beiträgt, scheint fraglich. Holger Gehle Jean Amery heute Wichtigste Quellen: Le Vif, Brüssel, 19.6. 1998, S.10-22. Le périodique du Sénate/Het tijdschrift van de Senaat, Brüssel, No.4/1998. Internet: http://www.senate.be. Le Soir, Briissel, 30.9. 1998, S.2; 10.11. 1998, S.20; 16.12. 1998, S.4. Internet: http://www.lesoir.com. E-Mail, erhalten am 19.1. 1999 von Frau Koen Muylie, Mitarbeiterin des ,,Informatiedienst van de Senaat/Service d’Information du Sénate“ in Brüssel, E-Mail-Adresse: mailto:info@senate.be. Lea Rosh, Eberhard Jackel: ,,Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Deportation und Ermordung der Juden. Kollaboration und Verweigerung in Europa. Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 1990, S.113-135. Es ist still geworden um Jean Amery, den 1912 als Hans Maier in Wien Geborenen, den Auschwitz-Überlebenden und deutschen Schriftsteller, zwanzig Jahre nach seinem Tod. Vor fünfzehn Jahren noch widmete ihm das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar eine Ausstellung und ein Marbacher Magazin. Vor sechs Jahren trafen sich Schriftsteller, Überlebende und Gelehrte in Wien zu einem Améry-Symposium. Der Band mit ihren Beiträgen erschien vor zwei Jahren. Im vorigen Jahr, zum 20. Todestag, kaum ein deutscher Nachruf, kein Angedenken. Stattdessen tobte der Gedenkstreit um eine Rede, die so fahrlässig daherkam, als hätte Amery nie geschrieben oder doch der Redner, Martin Walser, ihn nie gelesen. Lebte Amery noch, er stünde beiseite; vielleicht mit Abscheu, wahrscheinlicher aber gelangweilt, da eine politische Kultur sich erneut gezwungen sieht, gegen die immer gleichen Klagen ihrer Verächter noch einmal die immer gleichen alten Einsichten und, wo das nicht hilft, noch einmal Ressentiments gegen Ressentiments aufzubieten. Es war daher nurkonsequent, daß das Gedenken an Jean Améry Ende des letzten Jahrs exterritorial vonstatten ging: an der Freien Universitit Briissel (ULB), in der Stadt seines Exils. Die Universität, die Österreichische Botschaft, die Stiftung seines Verlegers Klett, der belgische Font National de la Recherche Scientifique, die Briisseler Communauté Frangaise, aber auch die Deutsche Gemeinschaft und das Briisseler Goethe Institut beteiligten sich an dem von Irene Heidelberger-Leonard organisierten Kolloquium, das am 10. und 11. Dezember letzten Jahres belgische, französische, österreichische und deutsche Forscher zusammenführte. Hier wurde nichts abgefeiert, hier mußte auch nichts beschworen werden. Das Programm setzte neue Akzente, schlug neue Lektüren vor. Es wahrte ein Bewußtsein dafür, daß jahrzehntealte Texte und Gedanken nicht schon deshalb erledigt sind, weil ihr Urheber lange tot ist und sich zu den letzten Versuchen seiner Widersacher, den alten Streit nun doch noch zu gewinnen, nicht mehr äußert. Niemand mußte dafür bekämpft werden. Beschämend war allenfalls die Einsicht, daß die Aktualitäten Jean Amérys nicht zuletzt einigen Versäumnissen seiner Interpreten und Verleger geschuldet sind. Zusammengefaßt stellte sich nämlich Nachholbedarf in wenigstens vier Punkten heraus. Da ist zum ersten der Romanschriftsteller und Leser Ame£ry. Daß er, trotz der bekannten Abrechnung mit Michel Foucault, ein postmoderner Autor gewesen sei und mit ,,Lefeu oder Der Abbruch“ (1974) sogar den postmodernen deutschen Roman geschrieben habe, ist wohl mehr als nur eine schnelle provozierende These, mit der Irene Heidelberger-Leonard die Tagung eröffnete. Sie wies daraufhin, daß das in jahrzehntelanger Arbeitund wenigstens fünf Anläufen bearbeitete ‚„‚Lefeu“-Projekt ein bis dahin unbeugsames Uber-ich des Essayisten Améry sehr wirkungsvoll durchschlug, da dieser sich in der Absicht, die ,,summa seiner Existenz“ zu ziehen, dort das rückhaltlose Nebeneinander verschiedenster Positionen und Schreibweisen gestattete. Eine virtuose Pluralität in Bezug auf die ästhetische Moderne stellte Michael Hofmann (Liege) dann auch in „‚Charles Bovary, Landarzt* (1978), Am£rys „Revisionsprozeß gegen den modernen Roman“, fest. Sie prägte im übrigen von jeher den Leser Améry, wie Hans Höller (Salzburg) und Andr& Combes (Lille) an Rezensionen und ausgewählten Kurzessays zu anderen Literaten, vor allem zu Thomas Mann, zeigen konnten. Offenbar hat Améry, sozusagen im Vorfeld seiner großangelegten Essays (und später der Romanessays), in solchen kleineren Texten probeweise ganz verschiedene Positionen bezogen und je spezifische Metaphern entwickelt, von denen sein Schreiben insgesamt dann profitierte. Gerhard Scheit (Wien) wies an Amerys Auseinandersetzung mit Adorno auch nach, daß selbst die großen thetischen Essays sehr unterschiedliche Standpunkte einnehmen und sich in ihren argumentativen Begründungen mitunter widersprechen. Das gängige, aber schiefe Bild von Amery als einem erratischen Intellektuellen von unerbittlicher gedanklicher Konsequenz wurde auf diese Weise nachhaltig relativiert. Ein vielgestaltiger und sehr flexibler Autor wurde dahinter erkennbar, an dem Jan Philipp Reemtsma (Hamburg) in einem Diskussionsbeitrag die Moral eines genauen situationsorientierten öffentlichen Sprechens hervorhob. Die Konzentration auf die je besonderen Gegenstände seiner Untersuchung sei Amery wichtiger gewesen als die Entwicklung möglichst widerspruchsfreier systembildender Denkformen. Ein schweres Hindernis aber, um die Vielgestaltigkeit dieses Autors besser sehen zu lernen, bietet zur Zeit vor allem die Editionslage. Zahllose Artikel und der größte Teil des literarischen Nachlasses sind nicht mehr oder noch immer nicht gedruckt verfügbar. Die im Stuttgarter Klett-Cotta Verlag erschienenen Auswahlbände decken nur einen kleinen Teil des essayistischen Werks ab und genügen auch elementaren philologischen Ansprüchen nicht. Die Tagung beschloß deshalb eine Resolution, in welcher der Verlag aufgefordert wurde, die Werkausgabe nunmehr auf eine neue Grundlage zu stellen und größtmögliche Vollständigkeit anzustreben. Werkgeschichtliche Zusammenhänge könnten dann künftig das zweite große Thema einer neuen Ame£ry-Forschung darstellen. In Brüssel wurde verschiedentlich deutlich, daß man ohne genauere Kenntnis solcher Zusammenhänge nicht viel weiter kommen wird. So hat Amery seinen bis heute unveröffentlichten Romanerstling ,,Die Schiffbriichigen von 1934/35, über den Stephan Braese (Hamburg) referierte, etwa Mitte der fünfziger Jahre wieder vorgenommen. Der Protagonist Eugen Althager, der im ursprünglichen Entwurf im Duell mit einem antisemitischen Corpsstudenten stirbt, solltenun das Schicksal eines Nazi-Häftlings erleiden. Das im Vorkrieg entwickelte Erzählkonzept sollte, zusätzlich erinnerungstheoretisch reflektiert, die Erfahrung der Folter und womöglich der KZHaft Amérys mitaufnehmen ~ ein Versuch, der scheiterte. Es scheint, als sei dieses Scheitern zu den Grundlagen der völlig veränderten Schreibweise in Amerys bis heute berühmtestem Essayband ‚Jenseits von Schuld und Sühne‘“ (1966) zu zählen. Der Anschein ist aber nicht schlüssig überprüfbar, da die Werkgeschichte der Jahre zwischen 1946 und 1966 noch nie detailliert rekonstruiert worden ist. Stephan Steiner (Wien) wies daraufhin, daß sechs Bücher und fast sämtliche Zeitungspublikationen dieser Zeit völlig unerforscht und selbst Experten nahezu unbekannt sind. Er vermutete, daß darunter auch vieles zu finden wäre, was Amérys Autorschaft von ihrer häufig stereotypen Fixierung oder gar Reduktion auf die Lagererfahrung entlasten würde; eine These, die nicht unbestritten blieb. Friedrich Pfäfflins bahnbrechender chronologischer Arbeit aus den frühen achtziger Jahren 35