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müßten jedenfalls interpretative Studien und Neueditionen dringend folgen. Sicher wird aber drittens die condition des KZOpfers ein zentrales Thema beim Lesen Amerys bleiben. Janine Altounian (Paris) und Jan Philipp Reemtsma suchten hier neue Zugänge. Altounians grundsätzlich angelegtes, psychoanalytisch fundiertes Referat stellte das Problem des Sprachverlusts bei verfolgt Exilierten in den Mittelpunkt und nahm Amery dafür zum Exempel. Reemtsma gelang in der Relektüre der Auseinandersetzung zwischen Amery und Primo Levi die emphatische Einlösung einer Maxime Adornos: Leiden beredt werden zu lassen. Im Zentrum von beider Rede und Gegenrede ließ sein Vortrag das anhaltende Leiden der knapp Entronnenen als abgründige Erfahrung quasi authentisch wieder aufscheinen. Eine tagungstypische Diskussion von Einzelheiten ließ sich daran nicht mehr knüpfen. Noch immer ist hier der tiefste Punkt der Améry-Lektiire erreicht. Der sich dabei einstellenden Schwierigkeit des Weitersprechens steht aber andererseits die unbezweifelbare Sprachemphase der großen Essays unvermittelt gegenüber. Zahlreiche Referenten, darunter auch Amerys französische Übersetzerin Francoise Wuilmart (Brüssel), betonten, in welch elementarem Sinne Am£ry „die Sprache“ als einen Ersatz für verlorene Heimat und Sicherheit imaginierte und auch benutzte. Dem verzweifelten, fast nihilistischen Entsetzen der Texte wird ein paradoxes Sprachvertrauen kontrapunktisch unterlegt. Sich über die Grundlagen dieses Sprachvertrauens Rechenschaft zu geben, bleibt die vierte und vielleicht wichtigste Aufgabe künftiger Lektüren. Vom Scheitern dieses Sprachvertrauens, der Hoffnung auf Überdauern und Verständigung in der Sprache, scheint noch immer die stärkste Assoziationskraft auszugehen, wenn man eine Deutung des Salzburger Selbstmords versucht. Lothar Baier (Frankfurt am Main)rekonstruierte zwar sorgfältig Amerys Auffassung von der eigentümlichen Dignität des Scheiterns und daher auch des Freitods und widersprach damit einseitig destruktiven Auslegungen. Die Frage aber, welcher Konflikt eigentlich im „‚Scheitern“ Amerys terminierte, wird dadurch nur umso dringlicher. Ging und geht es beim Sprachvertrauen, wie Reemtsma meinte, vor allem um eine reziproke und möglichst stabile öffentliche Kommunikation mit anderen, welche die sprachliche Artikulation und Zirkulation und so die gesellschaftliche Bearbeitung eines Traumas erlauben würde? Oder ging es Amery nicht doch eher um ein emphatisch wahres, durchaus zunächst monologisches Benennen von Leiden? In beiden Fällen blieben Fragen offen. Hat Amery tatsächlich derart viele kommunikative Enttäuschungen erlitten, daß er schließlich resignieren mußte; nicht erst im Selbstmord, sondern schon in einer zuletzt anzutreffenden sprachlichen Verpanzerung, die, wie es hieß, „‚dem anderen keine Chance mehr gab‘? Die Serie dieser erlittenen Kommunikationsabbrüche wäre dann eingehend darzustellen, um die Entwicklung verstehen zu können. Und konnte Amery andererseits ernsthaft glauben, im logischen Empirismus oder Positivis36. mus, in der Philosophie der Aufklärung oder in der Sprache Thomas Manns — Traditionen, auf die er sich berief - verläßliche Konzepte für die emphatische Aussprache seiner Erfahrungen zu finden? Die Emphase rückhaltloser Artikulation verweist vielleicht eher auf biblische Traditionen, z.B. auf die Klage Hiobs, die am Ende des Richard Wall letzten Buches zu Lebzeiten, ‚‚Charles Bovary, Landarzt“, neu erklingt, worauf Hans Höller mehrfach hinwies. Dann wäre, ausgehend von der Sprachproblematik, die Frage nach Amérys Judentum, nach dem Zwang und nach der Unmöglichkeit, heute (ein deutscher) Jude zu sein, neu zu stellen. GUT, ABER FREU DICH NICHT! Wir lasen glücklich zusammen den Telegraph, obwohl schlechte Nachrichten über diesen verfluchten General Franco darinstanden, der eine Menge deutscher & italienischer Kampfflugzeuge in seinem Hauptquartier in Sevilla versammelt hat. Oh, wir beten so dafür, daß die Regierung diese verdammten Rebellen besiegen wird. Aber es kämpfen ausgebildete Soldaten gegen das nicht ausgebildete Volk. John Cowper Powys, Tagebucheintragung vom 13. August 1936 Es hatte in dicken Flocken zu schneien begonnen, und eine Gruppe aus vier oder fünf olivgrün uniformierten Grundwehrdienern des österreichischen Bundesheeres stand mit hochgezogenen Schultern frierend und rauchend vor dem Eingang einerbierzeltähnlichen Konstruktion, für deren Errichtung sie offenbar zuständig waren. Ich stieß auf sienicht, wie man vermuten könnte, auf offenem Felde, sondern im östlichen Winkel des Heldenplatzes vor der Neuen Burg der Bundeshauptstadt Wien. Wahrscheinlich ein temporäres Gebäude, das Weihnachtsgeschäftbetreffend, dachte ich, esist zwar erst Mitte November, aber die Punschbuden, Christkindl- und Christbaummärkte scheinen jedes Jahr früher zu beginnen. Oderbezogen sich diese Vorbereitungen gar auf das sogenannte EU-Gipfeltreffen, zu dem Österreich (genaugenommen die derzeitige Regierung und ihre Hintermänner) im Rahmen seiner Präsidentschaft für Mitte Dezember eingeladen hatte? Mein Ziel war das Gebäude der Nationalbibliothek, genauer gesagt eine Ausstellung mit Fotos und Interviews über Österreicherinnen und Österreicher im Spanischen Bürgerkrieg von Felicitas Kruse, einer in Wien lebenden Photographin Schieß gut, aber freu dich nicht! schien einem Interview entnommen zu sein. Ein guter Titel, dachte ich, drückt er doch die Ambivalenz, das Dilemma der Kämpfenden aus, die zum einen Teil Pazifisten waren, zum anderen ehemalige Schutzbündler, die im ‚Christlichen Ständestaat“ Österreich nach den Februarkämpfen 1934 politisch verfolgt wurden bzw. als Angehörige linker Organisationen, die nun allesamt verboten waren, weder Arbeit finden konnten noch einen Sinn darin sahen, in der Illegalität weiterzuwursteln. Sie wollten gegen den sich ausbreitenden Faschismus in Europa nicht untätig sein, sondern diesen dort bekämpfen, wo es ihnen als sinnvoll und möglich erschien: zu diesem Zeitpunkt also in Spanien, und mit jenen Mitteln, die die antidemokratischen Kräfte als die ihrigen gewählt hatten, nämlich den brachialen Formen militärischer Gewalt (anstelle zivilisierter Formen von politischer Argumentation und Diskussion in Wort und Schrift). Tatsächlich hatte aber die junge Spanische Republik nicht nur gegen die Putschisten im engeren Sinn zu kämpfen, sondern auch gegen die Oligarchie des Adels, der Großgrundbesitzer und gegen die mächtigen, alteingesessenen Strukturen der spanischen Kirche, die noch 1781 das letzte Todesurteil im Rahmen der jahrhundertelang dauernden Inquisition, die erst 1834 endgültig aufgehoben wurde, vollstreckt hatte. George Orwell hatte treffend den Putsch der Generäle Mola, Sanjurjo und Franco als eine ,,von Aristokratie und Kirche unterstützte militärische Meuterei“ definiert. Kaum zu trösten vermag auch die Tatsache, daß zu dieser Zeit ein Militärputsch (spanisch: pronunciamiento) in Spanien kein auBergewöhnliches Ereignis war; im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war er ein nur allzu häufig angewandtes Mittel, mit dem immer wieder versucht wurde, eine politische Wende herbeizuführen. Nachdem ich in den Gängen, Hallen und Liftschächten der Nationalbibliothek einige Minuten herumgeirrt war, entschloß ich mich, bei einem Bediensteten nach der Ausstellung zu fragen. Dieser verwies mich auf einen anderen Eingang, nämlich auf jenen des Völkerkundemuseums. Nach einer nochmaligen, diesmal aber zielführenden Liftbenützung gelangte ich in den zweiten Stock. Mit Pfeilen versehene Hinweise lenkten meine Schritte in einen hohen, von der Decke bis zum Fußboden mit Büchern vollgestellten, saalähnlichen Raum, an dessen Eingang eine junge Frau vor einem Tisch mit Geldkassa, Durchschreibeblock und einigen Exemplaren des Ausstellungskatalogs saß. Unmittelbar vor ihrem Oberkörper lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem sie offensichtlich