OCR
zu lesen pflegte; denn mit einem Blick war zu erfassen, daß sich der Besucherandrang in Grenzen hielt. Die junge Dame befand sich eben mit einem etwa 75-jährigen Mann in einer Beziehung, die man allgemein als Gespräch bezeichnet, und ich wurde rasch — buchstäblich ‚‚im Vorbeigehen“ — abgefertigt: Das Gespräch unterbrechend und sich mir zuwendend rief sie in einem amtlichen aber nicht unfreundlichen Ton ‚40 Schilling!“, was ich dahingehend interpretierte, daß ich 40 Schilling Eintritt zu bezahlen habe. Eintrittskarten gab es keine, sie hätte mir wohl eine handgeschriebene Quittung aus dem vor ihr liegenden Kassablock ausstellen müssen, die ich aber nicht einforderte; ob sie diese Quittung prinzipiell nur nach Aufforderung auszustellen pflegte oder ob sie sich vor dem gesprächigen Besucher, der später, während meines Rundgangs für mein Empfinden zu laut und mit einem widerlichen missionarischen Eifer über das bevorstehende Ende der Welt und dessen Vorhersage in der Bibel dozierte, von ihrer Pflicht abhalten ließ, oder ob sie systematisch in ihre eigene Tasche wirtschaftete, war mir in diesem Moment gleichgültig. Jedem der31 Namen entsprachen meist zweibis drei Porträtaufnahmen — Gesichter, genauer gesagt Köpfe — wie könnte es bei diesem Thema anders sein- alter Männer, miteiner Ausnahme, nämlich der 1912 in Wien geborenen Anny Edel, die als gelernte Zahntechnikerin auf republikanischer Seite im Sanitätsdienst stand. Was die Einladung zu dieser Ausstellung schon eindringlich angekündigt hatte, lösten die Fotos ein: Auf die Augen dieser Menschen, die so vieles gesehen haben/sehen mußten in diesem Jahrhundert, in dem die Bestie Mensch ausreichend Gelegenheit hatte, ihr vom Intellekt unterstütztes Foltern und Morden zu perfektionieren und auszuführen, auf diese Augen, die nicht wegschauten, als das demokratisch gewählte, republikanische Spanien ausgelöscht werden sollte, mußte man sich einlassen. Sie waren in diesen Porträts mehr als nur Sinnesorgane und als solche Teil des Gesichts — sie waren beunruhigende Lichter, die den Betrachter nicht in Ruhe ließen, ihn dazu zwangen, Stellung zu beziehen, Sensoren, die einem spiegelgleich das eigene Leben vorhielten ... Einige dieser Augen hatten noch immer etwas von dem unternehmungslustigen Glanz undder Kraft, die es dem Betrachter nicht schwer machten, diese Gesichter als jugendliche zu sehen und mit ihnen zurückzureisen in eine Zeit, in der sie die besten Jahre ihres Lebens (wie man zu sagen pflegt) dem antifaschistischen Kampf und einer aus heutiger Sicht gescheiterten Idee zur Verfügung gestellt hatten. Das Gesicht, die Augen von Franz Primus beispielsweise. Ich begann in ihnen und in seiner Biographie zu lesen: 1917 in Zellach, Kärnten, geboren; 1937 nach Spanien; 1938 bei Belchite gefangengenommen; 1939 Auslieferung an die Deutschen, KZ-Sachsenhausen; Flucht 1944; bis zur Befreiung illegal in Berlin; 1949 Rückkehr nach Österreich. Sein Gesicht hat noch kaum Falten, seine Haare sind zwar schütteram Scheitel, aber noch dicht und kräftig an und über den Schläfen. Und unter den buschigen, knapp über den Augen liegenden Brauen dieser feste Blick — gerade ins Auge des Betrachters. „Meine Jugend habe ich verloren, das heißt ich habe sie nicht verloren, ich bin gestärkt“ , korrigierter sich, „ich habe Kraft geschöpft für das weitere Leben.“ Ich las die Niederschrift des Interviews und wurde an einer Stelle an meinen Vater erinnert, der als Bauernbub und Roßknecht Soldat geworden war für Nazideutschland und der mir öfter als einmal erzählt hat, daß er in den ersten Monaten der Gefangenschaft am Asowschen Meer, die insgesamt fünf Jahre andauern sollte, nichts anderes für sein Nachtlager zur Verfügung hatte als einen aufgetrennten Mantel zum Zudecken, ein Stück Dachpappe als Matratze und einen Ziegelstein als Kopfpolster. Und hier lese ich, daß auch Franz Primus sich so geholfen hat, in seiner Gefangenschaft in San Pedro de Candenio, auch er hatte einen Ziegelstein als Kopfpolster, einen spanischen, nehme ich an, so wie mein Vater einen russischen benützt haben dürfte, „und wenn dir einmalein bißchen kälter war, alte Zeitungen haben sie hereingegeben, mit diesen Zeitungen haben wir uns zugedeckt.“ Er war also 20 Jahre jung, als er nach Spanien ging, und 32 als er wieder nach Österreich zurückkehrte. 60 Jahre nach seinem Eintritt in die Internationalen Brigaden war er dann wieder in Spanien. Diesmal waren er und alle anderen noch lebenden „‚Spanienkämpfer“ offiziell eingeladen worden: “ ... ich war beeindruckt, das Volk, das spanische Volk - wir sind empfangen worden von dem Volk am Bahnhof, überall, wo wir angekommen sind, wo sie gewußt haben, wir kommen dort und dort durch, sind wir empfangen worden von Menschen. Ich habe nie geglaubt, daß noch so viele an die Internationalen Brigaden denken. Muchos gracias! — haben sie geschrien ...“ Der älteste, der mittels Lebenslauf, Interview und Porträt vorgestellt wurde, ist Heinrich Dürmayr, der einzige Akademiker in dieser Runde der Überlebenden, ein ehemaliger Rechtsanwalt. Sein Blick drückt — konträr zu den vorher beschriebenen — unsägliche Traurigkeit aus, wie sein ganzes Gesicht mit dem gepflegten Kinn‘und Oberlippenbart. Seine Biographie ein Stück österreichische Geschichte, respektive Skandal-Geschichte, wenn diese auch viele so nicht wahrhaben wollen: 1905 geboren, wird er nach dem 12. Februar 1934 als Kommunist immer wieder verhaftet und 1936 mit der Auflage, Österreich zu verlassen, entlassen. Er gelangt über England und Frankreich nach Spanien, wird von1939 bis 1940 in Frankreich interniert, kommt 1940 ins KZ-Flossenbürg, 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz, wo er seine spätere Frau, eine Jüdin kennenlernt. Beide überleben die Todesmaschinerie der Lager. Heinrich Dürmayr bekommt aufgrund seiner politisch integeren Haltung vom damaligen kommunistischen Innenminister Honner den Auftrag, die Staatspolizei zu übernehmen. Der plötzlich mit einem verantwortungsvollen Posten bedachte ehemalige „KZ-ler“ erzählt: „Ich war die Staatspolizei, sonst war ja nix da — und nicht einmal ich habe eine Waffe gehabt. Das war das Lustigste, damals war auch Wien noch verdunkelt, keine Beleuchtung, nichts. Und ich habe aber damals schon in der Himmelstraße gewohnt, und da hat mich einmal ein amerikanischer Offizier nach einer Besprechung mit seinem Jeep nach Hause geführt, da war es so schiach, dunkel, keine Beleuchtung, sagt er: Haben Sie eine Waffe? Sag ich: Nein! Hat er sofort mir seine Browning gegeben. Die habe ich heute noch. War ja wirklich komisch — ich war Chef der Staatspolizei und nicht einmal ich hatte eine Waffe.“ Dürmayr baute nach und nach unter dem Auge der alliierten Besatzer eine Struktur auf, die der Funktion einer Staatspolizei in diesen schwierigen Jahren, in denen plötzlich keiner mehr ein Nazi gewesen sein wollte, als der Schwarzmarkt blühte und der sogenannte Kalte Krieg neue Fronten schaffte, halbwegs entsprach. Er rekrutierte nur ,, verlaBliche Leute“: ehemalige Schutzbündler, Spanienkämpfer, „KZ-ler“ und andere Antifaschisten; denn die dringendste Aufgabe der Staatspolizei sah Dürmayr in der Verfolgung der Kriegsverbrecher und Nazibonzen; ,,das war aber nicht die Politik der SPO und OVP, da das Buhlen um die Nazistimmen schon begonnen hatte. So mußte ich aus der Staatspolizei entfernt werden.“ Für Dürmayr war die politische Diskriminierung 1945 nicht zu Ende gewesen. Er wurde 1947 aus seiner Arbeit gerissen und wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei seines Amtes enthoben. Verschmitzte Augen, nachdenkliche und müde Gesichter, die schon vom Tod gezeichnet sind, so wie jenes von Leopold Spira, dessen Porträt — der Kleidung und des Hintergrundes nach zu schließen — schon am Krankenbett aufgenommen wurde. Er versucht zu lächeln. Hinter den Brillen die klein gewordenen, von den Lidern bedrängten Augen, die Falten darüber wie gezeichnet. Er ist 1997 gestorben. Ein traurig stimmender Abgang letztlich diese Bilder hier, Ikonen einer verschwundenen Epoche, der letzte Versuch etwas aufzuhalten, festzuhalten, an das heute kaum noch jemand erinnert werden möchte. Zehn oder mehr Jahre der Jugend sein Leben zu riskieren für eine Sache, die ihnen und ihrer Klasse ein besseres Leben hätte bringen sollen, ‚‚für die Gerechtigkeit“, wie viele es ausdrückten, und gegen den Faschismus, von dem jeder, der es wissen wollte, gewußt hatte, daß Faschismus Krieg bedeutet eine derartige Haltung kostet heute den Jugendlichen und Zeitgenossen nicht einmal mehr ein müdes Lächeln. Die internationalen Brigaden bildeten das moralische Rückgrat der Volksfront, ihre Mitglieder hatten den antifaschistischen Widerstand zu ihrer Sache gemacht in dem Bewußtsein, daß, wer für Spanien kämpft, für eine bessere Welt kämpft, für die Freiheit und für die Menschenwürde. 37