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Kultur‘“.(8) Mit dieser Kritik der bürgerlichen Illusionen korrespondiert des Autors Überzeugung, das „Erbe der Großen Revolution“ von 1789 könne nur von den Arbeiterparteien verteidigt werden und das begriinde ,,jenes Biindnis, das wir jiidischen Intellektuellen mit den Arbeiterparteien geschlossen hatten"; es sei ein „ungeschriebener Vertrag“ gewesen, von beiden Seiten geschwisterlich gehalten als eine „klar verstandene Gemeinschaft der Interessen“ .(213/214) Das steht im Schlußkapitel von Teil II der „Bilanz“, dem über Juden und sozialistische Bewegung. Die darin sprechenden eigenen Folgerungen aus der entstandenen Lage der Judenheit grundieren ebenso den Teil III (‚Der Ausblick“), worin Zweig sein früheres zionistisches Votum bekräftigte. Er begründet es als Konsequenz zur Sicherung einer Perspektive für die bedrängten Juden, als eine Chance für sie, eine eigene Zukunft zu bauen. Leitende Idee war nicht das Nationale, vielmehr „eine sozialistische Welt“ , die ‚‚die Befreiung aus diesem lasterhaften Zirkel von National- und Privategoismen bringen“ wird. Dabei war er überzeugt, daß ,,unter den Kräften, die diesen besseren Neubau der Menschheit heraufführen, die Entgiftung der Gruppenaffekte und ihren Einsatz in den schöpferischen Prozeß, wie sie jetzt in den zerstörenden eingespannt sind: unter diesen Kräften wird neben dem Genius anderer Völker auch der jüdische dienen - oder es wird ihn nicht mehr geben.“ (238/239) Es entspricht der Anlage der Berliner Ausgabe der Werke Arnold Zweigs, daß in den Nachworten Entstehungsgeschichte wie auch Nachgeschichte der jeweiligen Bücher skizziert werden. Nicht Interpretation und deutende Kommentare, sondern Materialien zum werkgeschichtlichen Ort, zu den Anstößen für den Autor und zur Aufnahme seiner Arbeit sollen geliefert werden. Der so entstandene Editionstyp gibt, und das ist ein Vorzug, Texte zu lesen, die dem Erstdruck folgen — wichtig namentlich bei Autoren wie Zweig, die für spätere Ausgaben teilweise nicht unerhebliche Änderungen vornahmen; über diese Änderungen, die Umstände und Motive dafür wird im Anhang anhand des Nachlaß-Materials unterrichtet. Dadurch kann die Edition auch für wissenschaftlich interessierte Leser produktiv werden. (Als besonders aufschlußreich seien zwei Bände hervorgehoben, beide in der Bandbearbeitung von Julia Bernhard 1996 erschienen: ,,De Vriendt kehrt heim“, ein Roman mit einer außerordentlich problematischen Rezeptionsgeschichte, und der jetzt erst aus dem Nachlaß veröffentlichte Bericht ‚Freundschaft mit Freud“, an dem Zweig zwischen 1947 und 1962 arbeitete.) Auch im Falle ‚Bilanz der deutschen Judenheit 1933“ ist die Nachgeschichte kompliziert und widersprüchlich. Während der Emigration kam es, zu Zweigs Leidwesen und trotz vielem Bemühen, lediglich zu einer Übersetzung des Großessays, 1937 in England. Ernsthafte Anstrengungen für eine Ausgabe in der DDR unternahm der Autor Anfang 1954 und fand dafür sogleich einen interessierten Verleger. War anfangs nur ein neues Vorwort vorgesehen, das „unsere Gesichtspunkte, und zwar von 1954“ (382) vertreten sollte, so stellten sich bald Weiterungen heraus. Gemäß den landesüblichen Gepflogenheiten wurde ein Gutachten eingeholt, das mit Blick auf vorauszusehende Schwierigkeiten verfaßt war und empfahl, ihnen durch Änderungen am Text zu begegnen. Die kritischen Anmerkungen und Vorschläge des Gutachters zu berücksichtigen, hätte für Zweig bedeutet, eine weitreichende Bearbeitung vorzunehmen. Dazu war der Autor zunächst durchaus bereit, gewillt, wie erin seinem Kalender notierte, „‚das Problem ‘Deutsche und Juden’ aus der Verdrängung zu heben“. (384) Anfang 1955 begann er mit dem Redigieren und der Neufassung der „Bilanz“, die er auch über das Jahr 1933 hinausführen wollte. Doch brach er die Durcharbeitung nach einigen Anläufen ab — ohne das Buch in seinem Charakter zu entstellen, war den vorgebrachten Einwänden nicht Rechnung zu tragen. Denn die Widerstände betrafen Grundlegendes: sie kamen aus einer ideologisch bedingten Ablehnung von Zweigs Freudianismus und psychologisierender Erklärung des Antisemitismus wie von Geschichte überhaupt, und sie resultierten, ebenso gravierend, aus dem in der DDR-Politik weiterhin wirkenden Mißtrauen gegen zionistische Haltungen, selbst — wie in Zweigs Falle — die einer sozialistischen Prägung. Zu einer Neuausgabe von „Bilanz“, der dem Verleger immer wieder bis 1960 versprochenen Überarbeitung, kam es in der DDR nicht. Als nach der Festnahme Adolf Eichmanns 1960 Arnold Zweig die Chance geboten wurde, das Buch in der BRD erscheinen zu lassen, entschloß er sich sogleich. Beim Vorwort griff er auf die 1955 geschriebene Vorrede zurück und entsprach auch bei dessen Endfassung den Mahnungen von Seiten des Verlages, es nicht durch , politische Manifestation‘ (388) und mit „tagespolitischen ‘Bekenntnissen’ [...] zu belasten“ (387) Im Februar 1961 kam das Buch als photomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1934 heraus, eine Resonanz blieb nahezu gänzlich aus. Es war eine Hochzeit des kalten Krieges. In der Bundesrepublik galt Zweig als ein Sozialist, der sich auf die Seite des anderen deutschen Staates gestellt hatte und den man ungelesen links liegen ließ. „Bilanz der deutschen Judenheit“ war hier unverkäuflich, fast die gesamte Kölner Ausgabe wurde später makuliert. Nicht nur diese doppelte Nachgeschichte ist lehrreich und des Nachdenkens wert. Der Versuch Arnold Zweigs, Bilanz zu ziehen in einer Situation der Niederlage, nach deren Wurzeln und den Triebkräften in den beteiligten Menschengruppen zu fragen, vor Illusionen zu warnen, im bürgerlichen nichtjüdischen wie jüdischen Lager, nach nichtnationalen Lösungen und Perspektiven zu suchen als einer, der weiter ,,auf der linken Seite der Welt fechten“ will (239), bleibt ein bedeutendes Zeugnis für die Geschichte unseres Jahrhunderts. Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit 1933. Ein Versuch. Berlin: Aufbau-Verlag 1998. 441 S. (Berliner Ausgabe. Essays /3.2). OS 496,-/DM 68,-/SFr 62,50 Sechster Band der auf 26 Bände angelegten Berliner Ausgabe der Werke Arnold Zweigs, herausgegeben von der Humboldt Universität zu Berlin und der Berliner Akademie der Künste unter wissenschaftlicher Leitung von Frank Hörnigk in Zusammenarbeit mit Julia Bernhard. Jedem Band ist ein umfangreicher Anhang mit im Nachlaß aufgefundenen Entwürfen und Konzepten Zweigs, einem Anmerkungsapparat, einem Nachwort zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte und ein Personenregister beigegeben. Vor längerer Zeit gestaltete Marcel Prawy, der beliebte Opernführer der Nation, einmal eine Fernsehsendung über die ‚Wiener Staatsoper im Dritten Reich“. Prawy, der wegen seiner Jüdischen Herkunft einst selbst ins Exil flüchten mußte, bemühte sich, die Zeit zwischen 1938 und 1945 so objektiv, wie es ihm möglich ist, darzustellen, und er erwähnte immer wieder auch diejenigen, die, wie er vertrieben oder in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden waren. Aber er tat es in einem Tonfall und mit einer Miene, als würde er die Handlung von Lehärs Lustiger Witwe kommentieren. Ein ähnliches Problem hat offenkundig das vorliegende Buch von Michael H. Kater. Es handelt sich um einen Historiker der York University, Toronto, der offenbar die Musik - sei‘s Klassik oder Jazz — von Herzen liebt und mit dem Forschungsgegenstand des Buchs also das Angenehme mit dem Nützlichen, die attraktive Muse mit der trockenen Wissenschaft, verbinden möchte. Auch er sucht möglichst objektiv zu sein und verweist stolz auf die Archivfunde, die er gemacht hat — und distanziert sich mit etwas übertriebenem Ehrgeiz von den vorangegangenen Versuchen auf diesem Gebiet, die so schlecht nun auch nicht waren. Aber er findet keinen Ton für das, was es zu berichten gibt. An Fred K. Prieberg, der 1982 die erste große Studie zum Thema vorgelegt hatte, stört Kater nicht nur die ,,Schwarzweikzeichnung“, sondern auch der „Ton“, den er als „‚oft schrill und anklägerisch“ moniert. Katers Ton hingegen ist oft fad und verharmlosend. Im einzelnen liefert Kater einige Einblicke in bisher vernachlässigte Bereiche, indem er etwa 45