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Verloschene Sterne Die Wiener Theaterwissenschaftlerin Brigitte Dalinger hat in ihrer Diplomarbeit und Dissertation, die nun überarbeitet als Buch erschienen sind, eines der faszinierendsten Kapitel der jüdischen Zeitgeschichte, das bisher völlig unbeachtet blieb, aufgearbeitet. Denn obwohl Wien niemals ein so wichtiges Zentrum der jiddischen Kultur wie Warschau oder Wilna war, hatte es auch eine sehr bedeutende Tradition des jüdischen Theaters. In der in Österreich erschienenen Sekundirliteratur gibt es dazu fast tiberhaupt keine Hinweise, wie tiberhaupt die Forschungslage zur Geschichte der Juden in Wien noch sehr viele Liicken kennt. Dagegen gibt es in der jiddischen Literatur, sowohl in Erinnerungen als auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung, sehr viele Vorarbeiten zu ihrem Thema, die von der Autorin auch verarbeitet wurden. Dalinger beschreibt die Geschichte der groBen jiddischsprachigen Biihnen in Wien, der Jiidischen Biihne, der Freien Jiidischen Volksbiihne und der Jiidischen Kiinstlerspiele. Sie verschweigt aber auch nicht die ambivalenten Reaktionen vieler assimilierter Juden, die sich sprachlich von ihrer Herkunft abgrenzen wollen, gegenüber der jiddischen Literatur und den Stücken, die als Schund und Kitsch abgewertet wurden. Jiddische Stücke wurden auch von Max Reinhardt inszeniert, von Felix Salten rezensiert und sogar Arthur Schnitzler notierte seine Eindrücke über das jiddische Theater in seinem Tagebuch. Im Anhang porträtiert sie die Biographien der wichtigsten Schauspieler und Autoren. Einige der bedeutendsten Wiener jüdischen Publizisten der Zwischenkriegszeit wie Otto Abeles und Oskar Rosenfeld, die in der Shoah umkamen, Siegfried Schmitz, der in Palästina Selbstmord beging, und die damals sehr jungen Autoren Jakob Rosenthal und Alfred Werner, die in die USA emigrierten, rezensierten regelmäßig die Theateraufführungen, übersetzten oder schrieben aber auch selbst einige Dramen. Ein weiterer Abschnitt des Buches widmet sich auch den Gastspielen der damals berühmtesten jiddischen Ensembles wie der Wilnaer Truppe, der Habima und des Moskauer jüdisch-akademischen Theaters. Außerdem beschreibt sie, wie in den dreißiger Jahren auch Theatergruppen entstanden, die jüdische Stücke in deutscher Sprache aufführten und mit zionistischen Revuen, deren Texte sich leider nicht erhalten haben, das Publikum begeisterten. Als im Ständestaat die Jüdische Kulturstelle, ein Teil der Österreichischen Kunststelle, gegründet wurde, kam es als eine Sektion davon zur Etablierung des Jüdischen Kulturtheaters. Es spielte in deutscher Sprache von Siegfrid Schmitz oder Jakob Rosenthal übersetzte Stücke von klassischen jiddischen Autoren und bot vielen arbeitslosen oder aus Deutschland emigrierten Schauspielern eine Chance. Vor den Kultuswahlen 1932 hatte Oscar Teller, Gründer des Jüdisch-Politischen Cabarets, die Idee eines zionistischen Wahlkabaretts, und der 48 Medizinstudent Benno Weiser Varon schrieb dafür ein abendfüllendes Programm, das in allen Wiener Bezirken aufgeführt wurde und über das er berichtete: ,,Das war das große Lockmittel für die Wahlversammlungen. Um das Kabarett zu hören, mußte man auch vier Reden mithören.“ Die Zionisten gewannen die Wahlen; die Israelitische Kultusgemeinde wurde damit die erste jüdische Gemeinde Europas, die eine zionistische Führung erhielt. Bei den nächsten Wahlen trat das Kabarett erneut auf und die Zionisten gewannen wieder die Wahlen. Weiser Varon wurde im Exil ein prominenter Publizist und israelischer Botschafter in einigen lateinamerikanischen Staaten; 1992 veröffentlichte er seine Autobiographie „‚Professions of a Lucky Jew.“ Dalinger schrieb mit dieser Studie, ein wichtiges Stück Wiener jüdische Kulturgeschichte. Das Buch läßt den Leser aber auch erahnen, wieviel es in bezug auf die jiddische Publizistik und Erinnerungsliteratur noch aufzuarbeiten gilt. Die vorliegende Studie ist umso verdienstvoller, als sich viele der publizierten und unpublizierten Quellen in ausländischen Archiven und Bibliotheken befinden. Evelyn Adunka Brigitte Dalinger: Verloschene Sterne. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien. Wien: Picus Verlag 1998. 312 S. Florian Kalbecks ,,Basler Träumebuch“ Florian Kalbeck war 18 Jahre alt, als er Ende Mai 1938 am Wiener Schottengymnasium maturierte. Der Einmarsch der Nazis in Österreich zwang die Familie zur Flucht. Die Mutter und die Schwester verschlug es nach England, Florian wählte das Schweizer Exil, wohin ihm der Vater einige Monate später folgte. Der Vater, Paul Kalbeck, war Dramaturg, Schauspieler, Regisseur und Lehrer am Max Reinhardt-Seminar, während die Mutter als Malerin mit zahlreichen Künstlern befreundet war. Die künstlerische Atmosphäre des Elternhauses hinterließ nachhaltige Spuren bei dem Heranwachsenden. Florian, zeichnerisch überaus begabt, begann im Schweizer Exil ein Philosophiestudium. Ohne die Sicherheit, nicht eines Tages wieder ausgewiesen zu werden, vollendete Kalbeck dennoch seine Studien mit einer 600 Seiten umfassenden Arbeit über „Die philosophische Systematik Ernst Cassierers“. Florian Kalbeck kehrte 1947 nach Wien zurück, wurde Chefdramaturg am Theater in der Josefstadt, arbeitete als Redakteur beim ORF-Fernsehen und unterrichtete Fernsehdramaturgie an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, verfaßte Theaterstücke und Fernsehdrehbücher. 1990 erschien sein Roman „Das Haus der Schwestern Linsky“ und posthum 1997 ein Band mit Erzählungen ‚Die Erkundungen des Doktor Domola“, denn 1996 starb Florian Kalbeck. Ausgewählt und herausgegeben von Judith Pör Kalbeck, vereint „Das Basler Träumebuch“ Gedichte, Geschichten, eine Marionettenkomödie sowie Karikaturen aus Kalbecks Basler Zeit, entstanden zwischen 1939 und 1945. Den Umschlag des Buches ziert übrigens ein Ölgemälde von Marie Mautner Kalbeck, das ihren Sohn Florian in einer Commedia dell’arte Szenerie darstellt, der Dichter hält eine Theatermaske in der Hand, sorgenvoll unter seinen Füßen dicke Studienbücher und verstreute Manuskripte, im Hintergrund die Tessiner Berge, entstand das Bild 1947 nach Florian Kalbecks Rückkehr aus dem Schweizer Exil. Sieben Erzählungen bilden das Kernstück des Bandes, Geschichten, deren zentrales Motiv die menschliche Psyche mit ihren oft unerwarteten Problemlösungen ist. Am ausgeprägtesten äußert sich dies in der Erzählung ‚‚Die Kröte“ , in der ein Brudermord dargestellt wird, der offenbar nicht stattgefunden hat, sich vielmehr in der pathologischen Vorstellung eines Menschen thematisiert. Der behandelnde Arzt gewährt einem Dritten, dem Ich-Erzähler, Einblicke in die Krankengeschichte eines Patienten, wobei der ‘Fall’ als Metapher für menschliche Verhaltensmuster steht: ‚„‚Ich muß erzählen, wie ich meinen Bruder umgebracht habe. Es dauerte drei Nächte und drei Tage und es war ein gutes Stück Arbeit. Ich lauerte ihm auf, nachts, als er vom Bette meiner Geliebten heimkam. Das Weib behauptete zwar immer, sie habe nichts mit ihm, aber ich weiß, daß es doch so war.“ Eifersucht als scheinbares Motiv, zudem Anklänge an den Mythos von Kain und Abel, was für die Zeit der Naziherrschaft, als diese Prosa geschrieben wurde, eine zusätzliche Dimension impliziert, zumal das Bild der Kröte eine politische Konotation erfährt durch die Realität des nationalsozialistischen Rassenwahns: „Ich habe die Welt von der Kröte befreit und sollte mich meiner Tat schämen? Was ist das für ein Gott, der die Kröte duldet, der das Ekelhafte liebt und von dessen Überwinder Scham und Reue fordert!“ Der Arzt erscheint als Richter, was in diesem Kontext Assoziationen an KZ-Greuel wachruft; ebenso wie der Anspruch der Nazis, die Welt zu beherrschen, was Kalbeck durch Sätze wie die folgenden literarisierend überhöht: ‚Der Tag wird kommen, an dem Menschen wie ich herrschen werden. Aber die Mächte der Finsternis werden auch diesen Tag überwältigen. Finstere Dummköpfe werden die Krötenvernichter richten, weil sie ihre Lust nicht verstehen. Schwarzröcke, die in ihrem Herzen die Kröte nicht getötet haben, welche sie Gewissen nennen.“ Die Erzählung endet mit dem Satz, „Ja, man muß wachsam sein“, was zugleich als Warnung wie auch als Programm zu begreifen ist. Scheinheiligkeiten, wie sie alltaglich gepflogen werden, treibt Florian Kalbeck in der Schlußpointe seiner Erzählung „Kalter Milchreis mit Vanille“ zum Höhepunkt und decouvriert sie ironisch. Eine Geschichte, die Verlogenheiten mit dem Stilmittel grotesker Satire persifliert.