OCR
Statt eines Editorials — Deutsche Fliichtlinge in Osterreich | PolitikerInnen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen 1931 erklärte sich Anton Kuh die Freundlichkeit und Toleranz der Wiener gegenüber Zuwanderern aus den.Nachbarstaaten. daraus, österreichischen Volksbewußtseins“ sei. In der Zuwanderung sah er ein Mittel gegen das Ersticken Wiens an der „bajuwarischen Inzucht“. („Der unsterbliche Österreicher“, München 1931, S. 5). Gegenwärtig wird Österreich bei scheinbar gewachsenem Selbstbewußtsein ins Gegenteil seiner selbst verwandelt. Die breite Zustimmung, die eine faschistoid anmutende Hetze gegen „Ausländer“ heute findet, ist jedoch eher Ausdruck eines intellektuellen und moralischen Niedergangs. Die Triumphe des Rechtsextremen Jörg Haider sind nicht Folge einer wirtschaftlichen oder staatspolitischen Krise, sondern eine geistige Katastrophe. : Während der nationalsozialistischen Herrschaft, 1933-1945, flüchteten an die 400.000 Menschen, rassistisch oder politisch verfolgt, aus Deutschland. Manche gingen aus Protest. Auch Österreich war von 1933-38 ein wichtiges Exilland für Tausende Hitler-Flüchtlinge, die für längere oder kürzere Zeit hier einen prekären Unterschlupf fanden. Im neuesten „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“ ist sogar dem Saarland ein eigenes Kapitel gewidmet, nur Österreich wird als Exilland nicht erörtert. Vielleicht vollziehen die deutschen Exilforscher unbewußt noch immer den „Anschluß“ (wäre ebenfalls eine geistige Katstrophe). Wir haben uns jedenfalls die Aufgabe gestellt, den Spuren der deutschen Flüchtlinge in Österreich vor 1938 nachzugehen. Österreich war nicht nur ein wichtiges Exilland, sondern wurde von den Flüchtlingen auch selbst in mannigfacher Hinsicht beeinflußt und bereichert. Es ist kein Zufall, daß der Plan einer Deutschen Akademie im Exil zuerst in Österreich erdacht wurde und realisiert werden sollte. Die Ereignisse des Februar 1934 stellten einen ersten Einschnitt dar, aber erst die Okkupation Österreichs durch Hitlerdeutschland zerstörte die Ansätze zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Österreichern und deutschen Flüchtlingen. Die Zusammenstellung der Lebensdaten deutscher Flüchtlinge von Libertad Hackl beruht im wesentlichen auf einer Durchsicht des „Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, München, und von der Research Foundation for Jewish Immigration, Inc., New York. Drei Bände, erschienen 1980-83 bei K. G. Saur München, New York, London u. a. Diese Zusammenstellung und die der nach Österreich aus Deutschland zuriickgefliichteten OsterreicherInnen wird im nächsten Heft von MdZ fortgesetzt, sie ist einfach zu umfangreich geworden. (Auch andere Beiträge und Materialien, die wir vorbereitet hatten, müssen noch nachgereicht werden.) Viele der deutschen Flüchtlinge, die zwischen 1933-38 für kurze oder längere Zeit in Österreich Zuflucht suchten, sind mittlerweile, nach Redaktionsschluß des Lexikons, gestorben; wir haben uns nicht bemüht, die Todesjahre zu ermitteln. Jeder dieser „Datensätze“ enthält mehr Fragen als Antworten. Es bedürfte eigener Forschungen und einer viel umfassenderen Dokumentation, um der Materie gerecht zu werden. Bisher sind, monographische Studien ausgenommen, zum Thema erst einige wenige Beiträge erschienen — so von Evelyn Lacina (1982), Klaus Mammach (1989), Gerhard Scheit (1993) und Oliver Rathkolb (1995). Auf den Anruf hoher Wissenschaftsbeamter, die sich, angeregt durch MdZ, nach den Möglichkeiten eines gemeinsamen österreichisch-deutschen Forschungsprojektes bei uns erkundigen wollen, werden wir sicher vergebens warten. (Wir stehen mit Auskiinften gerne zur Verfiigung.) Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser 2 INHALT Alexander Viehauser: Wie fremd geworden ist mir die Heimat. Rechtliche Grundlagen des Asyl- und Fremdenrechtes in Osterreich zwischen 1933 und 1938 S.5 Sinn des Wortes“.. Das Jiidische Kulturtheater 1935 bis 1938 S. 11 Gerhard Scheit: Musik und Politik im Exilland Österreich - am Beispiel Gustav Mahler S. 15 Brita Eckert: Bedrohtes Exil. Prinz Löwensteins erste Exiljahre in Österreich S. 23 Otto Binder: Max Geissler S. 28 Ursula Prutsch: Hermann Mathias Görgens Fluchtjahre in Österreich 1935-1938 S. 29 Silke Engel: „... das Ende jener Herrschaft anzustreben ...“ A. H. Zeiz im österreichischen Widerstand S. 35 Hildemar Holl, Brita Steinwendtner: Jakob Haringer S. 40 Daniel Winkler: Utopisches Exil eines rebellischen Patrioten. Oskar Maria Graf und Wien S. 45 Hans Jorgen Gerlach: Heinrich Eduard Jacob im österreichischen Exil S. 51 Erich Hackl: „Die Entscheidung kann dir niemand abnehmen“ — Abschied von Otto Dorfer S. 57 Gennadi E. Kagan: Betrachtungen eines Linguisten zwischen den Sprachen oder Die negativen Anführungszeichen S. 59 Beppo Beyerl: Leben und Sterben in Déllersheim S. 63 Norbert Weiß: Waloschek(s) Weg S. 65 Anna Auer: Ausstellung Wolf Suschitzky und Edith Tudor Hart S. 66 Armin Eidherr: Stefan Zweig in Salzburg und weltweit S. 67 Martin Amanshauser: Exilmuseum in Estoril S. 69 Berichte, Notizen: Fliichtlingsfiirsorge der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (E.A., S. 10), Uraufführung der Lieder nach Theodor Kramer von Karlheinz Schrédl (S. 33), Edith Bruck war in Wien (K. Kaiser, S. 44), Die Gedenksttitte Karajangasse (S. Bolbecher, S. 62), Richtig muß man den Urtext lesen! — Harry Zohn auf einem PEN-Abend im Jiidischen Museum (A. Reinfrank, S. 66), Kurt Blaukopf gestorben (S. 71), Eine Ausstellung und ein Buch Leo Gliickseligs (K. Hofmann-Sewera, S. 71), Berichtigung (S. 72), 23. Mai 1949 — 1999: 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Riickblick (H. Blitzer, S. 72), Gegen den Strich (V. Vertlib, S. 76), Forschungsstelle für „Jüdische Literatur in Mitteleuropa“ an der Universität Klagenfurt (S. 77) Gedichte von Oskar Maria Graf (S. 7), Anna Krommer (S. 8), Harald Maria Höfinger (S. 8) Rezensionen über Bücher von Veza Canetti (A. Mitgutsch, S. 73), August Meyer (R. Wall, S. 75), Günther Elbin (K. Völker, S. 76), Jeremy Adler u. a. (E. Adunka, S. 77) Buchzugänge S. 78, Briefe S. 80, Impressum S. 80 Titelbild: Verbranntes, in den Pazifik versenktes Hakenkreuz (wie einst, im Lied ersehnt, in den „Vater Rhein“), Aktion und Photographie von Evan Sugerman (geb. 1977 in Garrison/USA). Sugerman ist ein Enkel der österreichischen Exil-Malerin Greta Schreyer.