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Flüchtlingsfürsorge der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde Die Wiener Israelitische Kultusgemeinde (IKG) hatte in den dreißiger Jahren, einer wirtschaltlichen Krisenzeit, eine größere Anzahl ihrer eigenen notleidenden Mitglieder zu befürsorgen als je zuvor. 1932 erhielten 40.000 Personen eine soziale Unterstützung der IKG, 1936 waren es bereits 60.000, also rund ein Drittel aller ihrer Mitglieder. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland wurde Österreich auch ein Zufluchtsort für deutsche Flüchtlinge. Die IKG organisierte daher im November 1933 in Wien eine internationale Wanderfürsorgekonferenz, an der Vertreter des Hilfskomitees für deutsche Juden, der Israelitischen Allianz, des Palästina-Amtes, des Chaluz, der österreichischen Provinzgemeinden und der jüdischen Gemeinden von Budapest, Prag, Brünn, Lundenburg und Bratislava teilnahmen. Auf dieser Konferenz wurde die Gründung einer erweiterten interterritorialen Arbeitsgemeinschaft der Wanderfürsorge beschlossen, der sich die Budapester Gemeinde anschloß. Der Tätigkeitsbericht der IKG listet für den Zeitraum vom 1. September 1932 bis zum 30. April 1936 4.610 Fälle für die Wanderfürsorge und 924 Fälle, die abgewiesen wurden, auf, wobei es sich aber nicht nur um Flüchtlinge aus Deutschland handelte. Das Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge wurde im April 1933 von der IKG zusammen mit der Israelitischen Allianz gegründet und führte als erstes eine Geldsammlung in der Höhe von ÖS 200.000 durch. 1934/35 mußten die Beträge für die einzelnen Flüchtlinge reduziert werden; insgesamt wurde in diesen Jahren ÖS 100.000 ausgegeben und das Komitee wurde aufgelöst. Eine weitere Sammlung 1936 erbrachte ÖS 60.000. Insgesamt wurden im Zeitraum — vom April 1933 bis zum April 1936 — 3186 deutsche Flüchtlinge, die sich meist auf der Durchreise befanden, unterstützt. In der Wiener jüdischen Presse wurden jedoch die Situation der deutschen Flüchtlinge und die Hilfsmaßnahmen der IKG und anderer Institutionen kaum thematisiert. Im Vordergrund standen die Auseinandersetzung mit den antisemitischen Publikationen und Aktionen der Nationalsozialisten und die Austragung der bitteren Konflikte zwischen den einzelnen politischen Fraktionen der IKG. Viele jüdische Zeitungen wurden von zionistischen Gruppierungen herausgegeben. Für sie standen die Berichte über ihre eigene Tätigkeit und über den Aufbau des jüdischen Staates im Zentrum. E.A. 10 Umgang der austrofaschistischen Diktatur mit Ausländern und Flüchtlingen Zur grundsätzlichen Stellung von Ausländern im „Ständestaat“ ist zu bemerken, daß ihnen sowohl aktives als auch passives Wahlrecht während der Zeit der austrofaschistischen Diktatur fehlten. Ebenso war Ausländern grundsätzlich die Mitgliedschaft in politischen Vereinen untersagt, bzw. waren sie überhaupt als „Unternehmer ... Ordner ... oder Leiter einer Versammlung zur Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten“ nach Vereins- bzw. Versammlungsgesetz nicht befugt. In Österreich wurde nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland sehr schnell der Umfang eines möglichen Asylrechts diskutiert. Tatsächlich wirkte die Weisung des für Sicherheitsfragen zuständigen Staatssekretärs Fey „an die Grenzorgane zwecks behufs scharfer Inspizierung der nach Österreich reisender Ausländer“ trotz entsprechender Dementis als eine Grenzsperre vor allem für „linke“ Flüchtlinge.'? In der Presse wurde die demonstrative Absage an die Idee eines demokratischen Asyllands Österreich als „Zumutung‘ kritisiert. Nahezu unvorstellbar erscheint die Verfügung der Behörden nach dem Reichstagsbrand (28.2. 1933), der zufolge gegen alle Deutschen ohne Einreisesichtvermerk das „Schubverfahren“ einzuleiten war, da sie von vornherein als „Kommunisten“ eingestuft wurden. Bald folgten Polizeirazzien in Wiener Massenquartieren, und gegen Ende 1933 hatte die österreichische „Bürokratie- und Regierungsdiktatur“ eine Asylpolitik durchgesetzt, die willkürlich politische und/oder soziale Gründe (z. B. unzureichende finanzielle Mittel) gegen eine Einreise heranzog. Zu diesem Zeitpunkt waren „Einbürgerungen durch Verleihung der Landesbürgerschaft“ nur mehr durch Ministerratsbeschluß (!) möglich; aussichtslos war der Versuch, eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. Vielmehr wurde Exilanten das Leben schwergemacht und immer wieder Auslieferungen an das Deutsche Reich durchgeführt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß nur etwa 2.500 jüdische Emigranten aus Deutschland in Österreich Zuflucht suchten, obwohl die Israelitische Kultusgemeinde sich dieser Flüchtlinge angenommen hatte. Widersprüchlich präsentiert sich die innerkatholische Auseinandersetzung mit dem Problem der Emigration, dabei wurde zwischen „positivem und negativem“ Emigrantentum unterschieden und von einem Gesamtdeutschen Reich nach Überwindung des Nationalsozialismus geträumt.?° Einzig privilegierte Gruppe unter den Flüchtlingen waren Künstler, sofern sie nicht als „links“ galten. Aber auch hier schufen Arbeitslosigkeit (in Wien waren 1933 von 15 Theatern sieben geschlossen), die Restriktion der Beschäftigungsbewilligungen und nicht zuletzt die faktische „Arisierung‘ der Filmindustrie (die Unmöglichkeit, einen in Osterreich mit jüdischen DarstellerInnen gedrehten Film in Deutschland zu verbreiten) eine wenig aussichtsreiche Situation für die Flüchtlinge. Wenn überhaupt, wurden Ausländer nur unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Interessen bzw. des Tourismus „geschützt“. Aufschlußreich hierüber ist die lange Diskussion über das Gesetz „über den Aufenthalt von Ausländern“. Primär zeigte man sich jedoch an der Erfassung jeglicher Flüchtlinge durch Wanderungsamt und Ausländerregister auf Gemeindeebene interessiert. Selbst die Bürokratie mußte in der Endbegutachtungsphase dieses Gesetztes feststellen, „daß eine Gesamterfassung aller Ausländer ab 14 Jahren bei einer Anzahl von 290.000 laut letzter Volkszählung zu kostspielig wäre, so daß vorerst nur jene Ausländer, die seit 1.1. 1933 in Österreich Aufenthalt genommen hatten, erfaßt werden sollten.“! Überhaupt war mit der Diskussion über dieses Gesetz Anfang 1938 die Stimmung gegen Ausländer bzw. Flüchtlinge wieder angeheizt worden (z.B. durch Gerüchtekampagnen NS-naher und deutschnationaler Journalisten über die angebliche Flut polnischer und rumänischer Juden, die vom Osten her Österreich überschwemmte). Noch bevor das sogar von der gleichgeschalteten Frankfurter Allgemeinen Zeitung begrüßte Gesetz beschlossen werden hätte können, traten mit dem Einmarsch Deutscher Truppen am 12.3. 1938 die wesentlich schärferen deutschen Regelungen im Bereich des Paß-, des Ausländerpolizei- und des Meldewesens in Kraft.