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Gerhard Scheit am Beispiel Gustav Mahler Nach einer landläufigen Auffassung bildete jenes Regime, das sich nach 1933 in Österreich etablierte und 1938 mit dem Einmarsch deutscher Truppen endete, so etwas wie eine Vorstufe des Nationalsozialismus in Österreich. Eines der vielen Beispiele, die einer solchen Auffassung offenkundig widersprechen, ist die Rezeptionsgeschichte Gustav Mahlers.' Der Komponist, dessen Werke ab 1933 aus dem offiziellen deutschen Musikleben ausgeschieden wurden, firmierte zur selben Zeit in Österreich als geradezu staatstragende kulturelle Größe. Und bei der Verbreitung seiner Werke im Konzertbetrieb und ihrer Interpretation in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern konnten jene Musiker und Musikschriftsteller, die zusammen mit Mahlers Musik aus Deutschland vertrieben worden waren, auf durchaus bemerkenswerte Weise hervortreten. Staatsmusik Die Feierlichkeiten zum 25. Todestag Mahlers im Mai 1936 zeigen die Tendenz zur Vereinnahmung am deutlichsten. Ihre Höhepunkte bildeten die Aufführung der Zweiten (26. April) und der Achten Symphonie (15./16. Mai) sowie des Lieds von der Erde (24. Mai) unter dem Dirigenten Bruno Walter und unter dem Ehrenschutz von Kurt v. Schuschnigg, der noch immer Bundeskanzler genannt wurde, obwohl er doch Staatsführer eines autoritären Regimes war. Neben Schuschnigg ist in den Berichten über die ausverkauften Konzerte auch die Anwesenheit anderer staatstragender Persönlichkeiten vermerkt: so etwa die des Unterrichtsministers Hans Pernter und auch die Alma Mahler-Werfels, die mit ihren guten Verbindungen zu Schuschnigg, Pernter und Ernst Rüdiger v. Starhemberg in ihrem Salon gleichsam eine Relaisstation zwischen Mahler und dem Ständestaat eingerichtet hatte. Charakteristisch für die paritätische Aufteilung der Mahler-Feiern unter der gemeinsamen Führung von Staatslenker und Orchesterleiter, daß die eine Aufführung im Musikverein mit den Wiener Philharmonikern und die andere im Konzerthaus mit den Wiener Symphonikern stattfand. Nicht zufällig erscheint auch die Auswahl der Werke: die beiden Symphonien sind das, was man kolossale Tongemälde nennt, mit großem Chor und Sängersolisten; sie verwenden Texte, die in christlicher Tradition geschrieben worden sind, und sie gehören mit ihren groß angelegten Schlußsätzen zu den affirmativen (im Falle der Zweiten freilich zugleich auch apokalyptischen) Werken aus dem Schaffen von Mahler. Bruno Walter hielt am 18. Mai im Rahmen dieser Feiern einen großen Vortrag im mittleren Konzerthaussaal. Die ausverkaufte und bejubelte Veranstaltung stand ebenfalls unter dem Ehrenschutz von Schuschnigg und besaß augenscheinlich einen staatsoffiziellen Charakter: neben dem Bundeskanzler selbst waren — wie die Presse ausführlich berichtete - abermals Unterrichtsminister Pernter, sowie die Gesandten Englands, Frankreichs, Hollands, Italiens, Polens und der Schweiz (also etwa jener Länder, die die Unabhängigkeit des österreichischen Staats garantierten oder sich neutral verhielten) im Publikum (— nicht aber der Gesandte Deutschlands von Papen!); ferner waren Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel anwesend.” „Dem Vortrag Walters folgte ein Beifall, dessen Intensität sich nicht vom Dankesjubel nach der Aufführung der ‚Achten‘ unterschied. Von Bundeskanzler v. Schuschnigg bis zu den Stehparterrebesuchern folgten den Ausführungen so viele Mahler-Enthusiasten, als der mittlere Konzerthaussaal fassen konnte.“” Am selben Tag legten die Direktoren der Wiener Staatsoper Felix Weingartner und Erich Kerber einen Lorbeerkranz am Grabe Mahlers auf dem Grinzinger Friedhof nieder.* Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel veranstalteten in diesem Zusammenhang auch einen Festempfang (und Rout), bei dem, wie die Presse schreibt „zahlreiche Vertreter des geistigen Wiens erschienen waren“: Minister Pernter, Minster a.D. Dobretsberger, die Gesandten ‚neutraler‘ bzw. „befreundeter‘ Länder (Niederlande, Schweiz, Schweden, Belgien, Polen, Ungarn, Frankreich); zahlreiche Fürsten und Fürstinnen, Grafen und Gräfinnen, Ministerialräte, Hofräte und Militärs; die Tänzerin Grete Wiesenthal, die Schriftsteller Raoul Auernheimer, Franz Theodor Csokor, Felix Salten, Karl Schönherr, Siegfried Trebitsch, die Verleger Bermann Fischer und Zsolnay, der Herausgeber des Neuen Wiener Journals Oscar Loewenstein, die Komponisten Wilhelm Kienzl und Egon Wellesz, Burgtheaterdirektor Röbbeling, der philharmonische Konzertmeister Arnold Rosé und viele viele andere. Andererseits fand aber auch in der Ottakringer Volkshochschule auf dem Ludo Hartmann-Platz eine musikalische Mahler-Gedenkfeier statt, wie Julius Stern in der Volks-Zeitung zu berichten weiß.® Und im Radio wurden Mahlers Neunte und die Lieder eines fahrenden Gesellen (ebenfalls mit Bruno Walter) als Mahler-Gedenkstunde gesendet.’ Nur die Gedenkfeier, die von der Wiener Staatsoper veranstaltet wurde, fiel vergleichsweise sehr bescheiden aus: am 14. Juni fand vormittags im Foyer der Staatsoper ,,im intimen Kreis eine kurze Gedenkfeier“ statt; Kerstin Thorborg sang vier Lieder, am Flügel begleitet von Carl Alwin, Felix Weingartner hielt eine Ansprache, „in der er seiner persönlichen Beziehungen zu Gustav Mahler gedachte“. Die meisten der zu diesen Veranstaltungen erschienenen Presseberichte bemühen sich sichtlich, Mahler als Komponisten einer großen Vergangenheit zu interpretieren, sie hüten sich, seine mögliche Bedeutung für die Gegenwart zu berühren, es sind gewissermaßen nostalgische Kritiken, wozu insbesondere die Persönlichkeit Bruno Walters, des ehemals engsten Freundes und Kollegen Mahlers, Anlaß gibt: „Der Dirigent schien da mit geheimnisvoller magischer Kraft förmlich das Rad der Zeit zurückzudrehen, die Vergangenheit wieder gegenwärtig zu machen, und als das Geigentremolo und die aufstürmenden Bässe der Zweiten Symphonie einsetzten, fühlte man sich wunderbar zurückgetragen in jene Jahre, da Mahler noch selbst hier stand, in eben diesem Saale und auf eben diesem Podium, Führer und Beschwörer des gleichen Orchesters und Bezauberer eines Publikums, das ebenfalls zu großen Teilen das gleiche geblieben ist.“ Folgt man dieser Einschätzung des Kritikers des Neuen Wiener Tagblatts, dann befanden sich relativ wenig jüngere Leute im Publikum, es handelte sich 15