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re 1936 in einem Wiener Verlag erschienenen Mahler-Buch Bruno Walters bestätigt ganz den Eindruck, den die Musikkritik von seiner Interpretationsweise hinterlassen hat. Freilich vermag der Dirigent Walter die Musik nicht so sehr zu verharmlosen, wie es der Autor Walter tut: „Die Mahlerschen Märsche sind voll vom Laut der österreichischen Militärmusik, die er so sehr liebte. Als er zwei Jahre alt war, pflegte ihn eine Bedienerin auf einem Kasernenhof allein zu lassen, um mit ihrem Soldaten alleine zu sein — und er hörte Trommeln und Trompetensignale und sah marschierende Soldaten. Die Romantik des Militärischen macht sich, wohl als Nachwirkung dieser Kindheitseindrücke vom Kasernenhof, in seinem Schaffen vielfach bemerkbar.‘?’ Selbst in der Nacherzählung der Anekdote, mag sie nun auf einer wahren Begebenheit beruhen oder nicht, wird das harmonisierende Verfahren Walters deutlich: wie nahe hätte es doch gelegen, auf die Angst und Einsamkeit hinzuweisen, die der zweijährige Knabe empfunden haben könnte, als er von der Bedienerin alleingelassen die Militärsignale und die Marschmusik vernahm. Doch bei Walter bleibt die Romantik des Militärischen von solchen Erfahrungen des dem Militärischen ausgelieferten Individuums unbeeindruckt — und dies im Jahre 1936, als die Aufriistung und Militarisierung in Deutschland auf Hochtouren lief, drei Jahre vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bruno Walters Mahler-Bild enthält nicht zuletzt eine verdeckte Polemik gegen die Mahler-Verehrung der Zweiten Wiener Schule. Walter greift sie nicht direkt an, sondern indirekt, indem er einer gemäßigten Moderne das Wort redet und Mahler dafür als Galionsfigur einsetzt. Freilich bleibt erkennbar, daß Bruno Walter sich keineswegs pauschal gegen die Moderne wendet, sie vielmehr auf der Grundlage der Ästhetik des 19. Jahrhunderts in die Musiktradition zu integrieren trachtet. In diesem Sinn wären auch die wenigen Versuche Walters zu sehen, modernen Werken (Kurt Weills Zweite Symphonie, Samuel Barbers Second Essay) zum Durchbruch zu verhelfen: so zeichnete ernoch 1938 für die Uraufführung von Egon Wellesz’ Prosperos Beschwörungen verantwortlich. Im „Ständestaat“ fand auch die musikalische Moderne durchaus Gehör - und dies keineswegs im Untergrund oder nur außerhalb der Öffentlichkeit des autoritären Staats. Im offiziellen Organ der Regierung, in der Wiener Zeitung, schrieb Willi Reich, ein Musikschriftsteller aus dem Umkreis der Zweiten Wiener Schule — Schiiler von Berg und Webern -, eine andere Hommage auf Gustav Mahler, als sie im Neuen Wiener Journal oder bei Bruno Walter zu finden war: ,,Die Bedeutung dieses Künstlers erfährt in den historischen Darstellungen der Neuen Musik immer eingehendere Würdigung: durch sein menschliches Vorbild und durch sein kompositorisches Werk hat Mahler die jüngere Generation aufs stärkste beeinflußt und den von der sogenannten ‚Wiener Schule‘ (Schönberg und sein Kreis) ausgehenden Entwicklung den Weg gewiesen.“ ® Von dieser Position aus versäumt es Reich auch nicht, Bruno Walters Mahler-Bild ein wenig zu korrigieren. Zunächst würdigt der Kritiker freilich den Dirigenten und artikuliert die Bedeutung seines Vortrags für den österreichischen Staat: „Der große Dirigent, dem die postumen Uraufführungen des ‚Liedes von der Erde‘ und der ‚Neunten Symphonie‘ zu danken sind, und dessen Wirken im Konzertsaal uns schon viele echte ‚Mahler-Feiern‘ bereitete, hat am 25. Todestag des Meisters das Bedürfnis gefühlt, sein so oft in Tönen gestaltetes Treuebekenntnis auch in schöne, gehaltvolle Worte zu kleiden. In einer klug aufgebauten Rede führte er seine Hörerschaft, unter der sich auch die politischen und geistigen Führer unseres Staates befanden, durch Erinnerung an die äußere Erscheinung und Betrachtung des künstlerischen Schaffens zur Erkenntnis der menschlichen Persönlichkeit Mahlers.“”” Bei Walters Betrachtung des künstlerischen Schaffens meldet Reich aber im Namen der ästhetischen Prinzipien Schönbergs leise Bedenken an: „Da Walter für die Bewertung des Mahlerschen Schaffens die rein musikalische Betrachtung nicht als ausreichend ansieht, will er die entscheidenden Maßstäbe der Seelengeschichte des Künstlers entnehmen. (...) Der Rezensent muß hier offen eingestehen, daß er diesen Standpunkt nicht teilen kann und eine Betrachtung des Mahlerschen Oeuvres von rein musikalischem Standpunkt aus für durchaus möglich und höchst wünschenswert hält. Bestärkt wird er durch eine Bemerkung Walters, der selbst auf die Formstrebsamkeit Mahlers hinwies und auf sein restloses Bemtihen, jede Einzelheit dem Gesamtplan nutzbar zu machen.“ Willi Reich war zusammen mit Ernst Kfenek der Herausgeber der Wiener Musikzeitschrift 23. Es handelte sich bei diesem 1932 gegründeten und bis 1938 erscheinenden Organ nicht nur um eine der wichtigsten Musikzeitschriften, sondern vermutlich auch um die interessanteste Zeitschrift überhaupt, die in Österreich zwischen 1934 und 1938 erschienen ist?! — sieht man von den letzten Jahrgängen der Fackel ab, die aber gerade das Vorbild der 23 bildete: diese wollte die Fackel auf dem Gebiet der Musik sein. Doch im Unterschied zur Fackel bot sie einem breiten Kreis Publikationsmöglichkeiten, einem Kreis, der durchaus über den der Wiener Schule hinausging und nach 1933 auch den aus Deutschland vertriebenen Schriftstellern, Kritikern und Komponisten ein Forum bot. Unter anderem publizierten hier Theodor W. Adorno, Joseph Roth, Siegfried Kracauer. Mit dem „Anschluß“ mußte die Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen, die wichtigsten ihrer Autoren wurden ins Exil getrieben — darunter auch ihre Herausgeber. Wie Reich hatte auch Ernst Kfenek seine politischen und kulturpolitischen Hoffnungen einige Zeit hindurch auf den ‚Ständestaat‘ gesetzt. Anders als sein großes Vorbild Karl Kraus, anders auch als Sigmund Freud und Moritz Schlick, Robert Musil und Joseph Roth, betrachtete Kfenek diesen Staat nicht allein als das kleinere Übel gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern als Entwurf einer neuen zukunftsträchtigen Gesellschaftsform, ja als Alternative zu Demokratie und Kapitalismus. Faschismus nach italienischem Vorbild bedeutete für ihn offenbar einen gangbaren Weg aus den Antinomien der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft - Faschismus nach italienischem Vorbild, daß hieß noch 1936 eine Gesellschaftsordnung, in der die moderne, avantgardistische Kunst staatlich gefördert und getragen wird und in der andererseits der Antisemitismus vom Staat nicht nur nicht gefördert, sondern verhindert werden sollte. Vor allem aber sah Kfenek in einem solchermaßen faschistischen Österreich die einzige wirksame Anti-Hitler-Macht. Noch in den Schriften aus den ersten Jahren des Exils zeichnet sich diese Konzeption ab, obwohl Kfenek zur gleichen Zeit im Tagebuch bereits deutlich hörbar Abschied nimmt von seinen österreichischen Illusionen.’ Mitte der dreißiger Jahre waren sich auch Adorno und Kfenek freundschaftlich und geistig am nächsten — wenn auch Adorno den „ständestaatlichen“ Hoffnungen Kfeneks nichts abgewinnen konnte, bereits im November 1934 schrieb er an ihn: „Für ihre politischen Hoffnungen wünsche ich Ihnen nur das eine, daß sie nicht enttäuscht werden: was mir freilich un19